Home Sweet Home

Meine Lieblingsbeschäftigung, und leider auch einziges Hobby, ist das Beobachten. Ich liebe es stundenlang aus dem Fenster zu blicken und zu analysieren, was in der Welt vor sich geht. Bestimmt geht es vielen anderen Menschen auch so, aber wer würde das schon freiwillig zugeben? Ist vermutlich nicht eines der Hobbys, die man gerne im Lebenslauf aufzählt. Aber da ich ja kein Mensch, sondern eine Zimmerpflanze bin, kann ich es ja preisgeben. Jedoch bin ich keine spießige Topfpflanze, sondern brodele vor Lebensfreude. Ich habe oft die verrücktesten Gedankengänge oder male mir abenteuerliche Geschichten vor dem Schlafen gehen aus. Obwohl mich manch ungezogener Mensch als Staubfänger bezeichnen mag, heiße ich immer noch Cattleya und bin als ästhetisch anspruchsvolle Orchidee definitiv die Königin der Pflanzenwelt. Die Fensterbank ist mein Zuhause, mein home sweet home. Ich werde hier liebevoll umsorgt und um nichts muss ich mir Gedanken machen. Ich werde immer nach striktem Plan gegossen, genau so mag ich es. Die Heizung direkt unter mir sorgt sogar an stürmischen Wintertagen für eine wohlige, angenehme Temperatur. Abgeschottet hinter meinen vier Wänden fühle ich mich sicher und geborgen. Niemand kann mir etwas antun. Und ewig grünt die Zimmerpflanze. Vom dritten Stock aus kann ich jeden Tag einen beeindruckenden Ausblick über die Stadt genießen. Auf den Straßen ist wieder ein theatralisches Schauspiel erster Sahne zu sehen. Menschen und Häuser wirken so klein wie Spielzeug. Hektisch stürmen sie aus den Häusern um mit ihren bonzigen Autos zur wenigen Kilometer entfernten Arbeit zu fahren. Es scheint so, als würde niemand mehr würdigen, dass er mit Beinen gesegnet ist. Ist das der Fortschritt der Technik? Hätte ich Beine, glaubt mir, ich würde mich niemals herumkutschieren lassen.

Ein vorbei fahrendes Auto bläst dicke Abgase in die Luft, so dass sich der umliegende Schnee leicht grau verfärbt. Der Anblick schmerzt mir tief in meiner grünen Seele. Zu allem Überfluss öffnet der Beifahrer sein völlig automatisiertes Fenster (nur keine Bewegung zu viel tätigen) und wirft ein Stück Plastik direkt in den Graben. Ist die Welt ein einzig großer Abfalleimer? Ich weiß, man soll nicht hassen, was man nicht versteht, aber ich kann nicht anders. Diese Menschen geben mir den Grund alles in Frage zu stellen. Sie werfen Müll wahllos weg und machen uns Pflanzen das Leben schwer. Wieso würdigen sie meine Kameraden nicht und bewerfen sie mit Dreck? Schließlich stellen wir Pflanzen ja nur den lebenswichtigen Sauerstoff her. Ich spüre die leidvollen Blicke der Pflanzen am Straßenrand, die tagein, tagaus ums Überleben kämpften. Der Tod ist für jeden von uns unumgänglich, jedoch nicht in solch einem rasanten Tempo, wie die Menschen ihn provozieren. Und ich kann auf meiner Fensterbank den Luxus eines Panoramaausblickes auskosten, während meine Kameraden nicht nur mit Frost zu kämpfen haben. Sondern mit Menschen. Deshalb bin ich froh, an meiner Stelle zu stehen und nicht dort unten, neben dem mächtig miefenden Müll. Nicht nur mir geht es so, sondern allen Topfpflanzen in diesem Zimmer, wenn nicht gar auf der ganzen Welt. Komischerweise habe ich letztens jedoch von Zimmerpflanzen gehört, die sich gar nicht wohlfühlen sollen. Sie würden anscheinend in endloser Nostalgie schwelgen und sich nichts Sehnlicheres wünschen, als wieder in ihrer ursprünglichen Heimat zu sein. Was ich nicht nachvollziehen kann, da Heimat für mich meine geliebte Fensterbank und nicht der immerfeuchte Regenwald in Mittelamerika bedeutet.

Obwohl ich meist vor Optimismus überkoche, gibt es Tage, an denen ich meiner Melancholie nicht aus dem Weg gehen kann. An solchen Tagen wird mir bewusst, dass ich mich hier drin niemals vermehren kann. Aber will ich überhaupt meine Samen in eine solch elende Welt auf die kräfteraubende Reise schicken? Meine Samenspende soll die Welt verbessern und bereichern. Doch dies ist in unserer tristen Welt nicht mehr möglich. Wenn ich genau darüber nachdenke, wird mir ganz mulmig und ich bin dem Wasser nahe. Es tut weh zu wissen, dass die Menschheit meine Gleichgesinnten mit Füßen tritt. Deshalb kann uns als Pflanze nichts Besseres geschehen, als einen exklusiven ersten Platz auf der Fensterbank zu ergattern. Hier werden wir von den Menschen gewollt und geliebt. Wer also die Geschichte der unzufriedenen Topfpflanze glaubt, wird selig. Ich muss doch nur meine Kollegen am Straßenrand begutachten um zu wissen: die Welt da draußen ist grauenhaft. Die Pflanzen am Straßenrand schauen wehmütig zu mir nach oben, mit dieser Sehnsucht in den Augen. Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, welches nicht von Lärm und Abgasen geprägt ist. Ein Leben, in welchem man sich nicht Gedanken um die eigene Existenz machen muss, weil das Artensterben immer weiter voran streitet. Ein Leben, das voller Artenvielfalt strahlt und nicht aus grauen Mauern besteht. Ein Leben das lebenswert ist. Die Menschen greifen mit jeder Tätigkeit so stark in unser Leben ein, dass bald schon unsere Seele entgleist und für immer verloren geht. Der Beton wächst beängstigend schnell und frisst uns auf. Bis auch das letzte Quantum Hoffnung in uns vollständig erloschen ist. Ich will hier niemals weg von meiner Fensterbank. Will hier für immer verweilen und die Welt als ferner Beobachter still schweigend begutachten. Obwohl ich meine Heimat über alles liebe, frage ich mich: Wie fühlt sich Regen auf meinen Blüten an? Werde ich jemals Wind um meine Blätter tanzen fühlen? Was ist das für ein Gefühl, wenn eine Biene mich küsst? Zuhause gibt es nichts zu befürchten, aber viel zu vermissen. Obwohl ich hier drin auf meiner Fensterbank nichts riskiere, riskiere ich alles.