Erkenntnisse auf Norderoog

Es ist Sommer. Die Sonne brennt gnadenlos auf die kleine Hallig herab. Wir sitzen halbnackt auf dem hölzernen Umlauf der Hütte. Das Meer hat sich zurück gezogen. Das Watt liegt ruhig vor uns. Ein paar heimische Seevögel scheinen sich lautstark zu beklagen. Es geht ein leichter, salziger Wind. Die Salzwiesen färben die geschützte Nordseeinsel grün-braun. Ich fühle mich frei. Die Entscheidung hierher gereist zu sein, scheint mir richtig. Neben mir sitzt der 21-jährige Lukas. Dieser große, sportliche junge Mann hat eine beruhigende Ausstrahlung. Wir schweigen und genießen, lassen uns völlig von der Natur einnehmen. Ich muss grinsen, kann meine Freude das alles erleben zu dürfen, nicht verbergen. Wir beide sind hier, weil wir uns entschieden haben, an einem Workcamp auf der Hallig Norderoog teilzunehmen. Die Hallig ist ein bedeutendes Brutgebiet für geschützte Küstenvogelarten, sie liegt im Weltnaturerbe und Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Die ehrenamtlichen Teilnehmer kommen deutschlandweit hierher, um praktischen Naturschutz zu betreiben. Ich selbst bin froh darüber, dass ich mich vom weit entfernten, süßlichen Bodensee zur rauen, salzigen Nordsee aufgemacht habe. Lukas hat aus innerer Überzeugung schon mehrmals seine Ferienzeit auf dieser Hallig verbracht. Er kommt ursprünglich aus der Hansestadt Hamburg, studiert aber in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Seine tiefe, hallende Stimme erzählt mir aus seinem Leben. Uns vereint die Absicht helfen und etwas zurück geben zu wollen.

Das zweiwöchige Leben auf Norderoog ist geprägt von zahlreichen neuen Erfahrungen. Die Gezeiten der Nordsee bestimmen unseren Ablauf, der sich täglich ändert. Wir bauen jeden Tag hölzerne Lahnungsfelder rund um die Hallig, die winterliche Sturmfluten kontrolliert schwächen sollen. Dadurch verhindern wir die Erosion, also den Abtrag des Inselbodens durch das Salzwasser. Wir schützen aktiv einzigartige Natur, wir arbeiten nachhaltig. Eine ehrliche, sinnvolle Tätigkeit. Leben und Tod wirken hier völlig natürlich: Fliegende Jäger stürzen sich in aufgebrachte Vogelschwärme, Robben und kleine Schweinswale kreuzen die Hallig, angespülte Kadaver verwesen ganz normal. Krebse zanken sich im Watt, bunte Schmetterlinge tanzen in der Luft, Zugvögel reisen in geschlossener Formation dorthin, wo sie ihr Instinkt hinführt. Alles wirkt so harmonisch. Eigentlich ist das Leben so einfach, denke ich mir. In weiter Entfernung sehen wir in unserer Abgeschiedenheit Zivilisation. Benachbarte Halligen, also Inseln, die zeitweise komplett überflutet werden können, auf denen einfache, sympathische Menschen leben. Landwirtschaft und Tourismus sind hier wichtige Einnahmequellen. Der Nationalpark lockt ganzjährig Forscherteams. Ein großflächiges Schutzgebiet, das keinerlei Veränderung durch den Menschen ausgesetzt werden darf. Ich merke, das funktioniert nur bedingt. Der Mensch nimmt immer Einfluss. Das kaum sichtbare Festland ist gespickt mit großen, weißen Windkraftanlagen. Das Sinnbild der geplanten Energiewende.

In dieser Isolation wird einem vieles bewusst. Ich lebe in einer dynamischen Zeit, die an mir vorbei rast. Die Besinnung auf das Wesentliche erfahre ich nicht mehr so häufig wie früher. Die Menschheit – wieso ist sie so dumm, zerstört ihre Jahrmillionen alte Lebensgrundlage innerhalb kürzester Zeit? Wieso sind wir so gelähmt und unternehmen als Individuum nicht sofort, noch heute etwas dagegen? Wir reden darüber. Lukas hat ähnliche Sorgen, eine Angst, die meine Generation prägt. Es tut gut sich darüber auszutauschen, doch wir beide wissen: nur reden reicht nicht. Wir müssen die Veränderung sein. Die eigene Einstellung macht uns zu dem, wer wir sind. Ich meine, dass jeder Mensch versucht etwas zu hinterlassen, das besteht, auch wenn er irgendwann geht. Lukas erzählt, dies gehe einfacher als wir uns vorstellen. Man brauche keine Prominenz, nicht viel Geld, könne auf diese lächerlichen (a)sozialen Medien scheißen. Unser tägliches Verhalten reiche völlig aus. Wie wir Menschen der Natur, den Herausforderungen begegnen. Das klingt einleuchtend. Wir merken, dass diese Werte sicherlich auch Jens Wand vertreten hat. Jens Sörensen Wand ist der Schutzpatron dieser Hallig. Dieser Mann wurde von den angeblich modernen Menschen enttäuscht, er zog sich auf die abgelegene Nordseeinsel zurück, um seinen Frieden in der Naturschutzarbeit zu finden. Der Vogelkönig von Norderoog verteidigte dieses Paradies öfters mit seinem eigenen Leben. Fast 40 Jahre verbrachte er auf der Hallig, seine Frau zog irgendwann zu ihm. Als sie starb, trug er ihren Leichnam geschultert übers Watt zur benachbarten Hallig Hooge, hier liegt ihr Grab noch heute, wir waren selbst da. Auf dem Rückweg zog Nebel auf, er verlief sich im Watt, die Flut kam. Sein genaues Ende ist unklar, doch Jens Sörensen Wand starb für das, was er liebte. Wir stehen auf, um sein Werk fortzuführen. Ein tolles Gefühl, wie ich finde.