Die Grenzen der Ausbeutung

An der Küste von Louisiana wackelt ein Ei. Ein kleiner Braunpelikan versucht mit ganzer Kraft der Kalkschale zu entkommen. Die Befreiung ist anstrengend, so dass er immer wieder in seiner mühseligen Arbeit pausiert. Endlich hat das fortwährende Schnabelstoßen die weiße Barriere zwischen ihm und der Welt zu Fall gebracht, und der kleine Pelikan liegt nass und entkräftet im Nest. Er ist der erste von seinen Geschwistern, die anderen Eier im Nest liegen noch unbeweglich und leblos neben ihm. Die Eltern beobachten ihr Kind fasziniert, es ist ihre erste Brutsaison. Sobald der kleine Pelikan wieder zu Kräften gekommen ist, fängt er an zu betteln und wird von seinen Eltern aufopfernd belohnt. Nach kurzer Zeit schlüpfen auch seine Geschwister und sofort entbrennt ein erbitterter Kampf, jedes Mal, wenn eines der Elternteile mit Futter zum Nest zurückkehrt. Die ersten Tage müssen sich die Pelikanküken noch mit dem hochgewürgtem Brei aus vorverdautem Fisch begnügen, doch nach zehn Tagen bringt der Pelikanvater endlich einen ganzen Fisch zurück ins Nest.

Der kleine Braunpelikan ist seit dem Schlüpfen schon erstaunlich groß geworden und übertrifft seine Geschwister um ein paar Zentimeter. Diesen Größenvorteil ausnutzend, schafft er es, sich den ersten Fisch seines Lebens zu sichern und kann sich seitdem kein besseres Futter mehr vorstellen. Die nächsten Tage und Wochen vergehen ähnlich, ein paar Mal müssen die Pelikaneltern räuberische Möwen von ihrer Brut vertreiben. Der weiche weiße Flaum des kleinen Pelikans beginnt langsam sich in das Jugendgefieder zu verwandeln. Er betrachtet seine Metamorphose skeptisch und schlägt immer wieder versuchsweise mit seinen Flügeln. Von seinen zwei Geschwistern ist nur noch eines übrig, aber selbst für zwei Vögel ist das Nest schon zu klein. Nach 80 Tagen ist die Kindheit des kleinen Pelikans plötzlich vorbei und seine Eltern nehmen ihn mit zu seinem ersten Ausflug aufs Meer. Der kleine Pelikan stellt erschrocken fest, dass er fliegen kann, und versucht konzentriert die Balance zu halten, während der Wind erbarmungslos unter seine Schwingen greift und ihn in die Luft hebt. Nach einiger Zeit vertraut er seinen Flügeln zumindest so weit, dass er zum ersten Mal begreift, dass er das Nest verlassen hat. Die Weite des Meeres ist für ihn unbegreiflich, er hat sich die Welt nicht so groß vorgestellt. Um ihn herum stürzen sich seine Artgenossen immer wieder senkrecht in die blaue Flut und tauchen, wenn sie Glück hatten, mit einem Fisch im Schnabel wieder auf. Der kleine Pelikan hadert mit sich, versucht sich zu überwinden und wagt schließlich doch den Sturzflug in die windbewegte Wasserfläche. Der erste Versuch scheitert, aber er ist ehrgeizig und nach einigen Versuchen hat er Erfolg, der erste selbstgefangene Fisch windet sich in seinem Schnabel und er denkt, dass er jetzt alles schaffen kann.

Unterdessen testet der Mensch mit der Deepwater Horizon im Golf von Mexiko ein weiteres Mal die Grenzen der Ausbeutung seines Planeten aus und scheitert am 20. April 2010. Zwei Tage später verschwindet die Ölplattform unter dem Meeresspiegel und entlässt drei Monate lang jeden Tag ungehindert mehrere Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko, was zur schlimmsten Umweltkatastrophe dieser Art in der Geschichte führen soll. Der Ölteppich ist trotz verschiedener Maßnahmen nicht aufzuhalten und trifft am 29. April 2010 mit verheerenden Folgen erstmals auf die US-Küste.

Der kleine Pelikan ist inzwischen groß geworden. Die Spannweite seiner Flügel beträgt jetzt beeindruckende zwei Meter, er ist so groß, dass ihm kaum ein Fressfeind mehr etwas anhaben kann. Sein Gefieder hat sich vom juvenilen Braun in ein elegantes Silbergrau gewandelt, das ihn von den Jungtieren abhebt. Er hat sich zu einem geschickten Jäger entwickelt und ist durch seine Jagdkünste gut genährt, was ihm in seiner ersten Brutsaison nützen wird. Aber noch ist es nicht so weit und er übt sich ein weiteres Mal im Fischfang. Gekonnt stürzt er sich in die Fluten und greift den Fisch geschickt kurz unter der Wasseroberfläche. Beim Auftauchen findet er sich plötzlich in einem schwarzen Ölfilm wieder. Er streckt seine verschmierten Flügel aus und versucht sich von dem Ölteppich in die Luft abzustoßen. Aber das Öl hält ihn fest und zieht ihn wieder zurück, so oft er es auch versucht. Es hat sich weit von der Küste entfernt und merkt, wie er abgetrieben wird. Noch einmal schlägt er verzweifelt mit seinen großen starken Flügeln und endlich gelingt es ihm, sich in die Luft zu erheben. Das Fliegen fällt ihm schwer, aber er schafft es zurück zur Küste. Sobald er gelandet ist, beginnt er sein schwarz verschmiertes Gefieder zu putzen und verschluckt dabei immer mehr von dem giftigen Öl. Er ist zum ersten Mal richtig nass und ihm ist kalt, das Öl hat die lebenswichtigen Funktionen seines Gefieders, die Wärmeisolierung und die Wasserabweisung, zerstört. Der Pelikan versucht immer weiter den schwarzen Film von seinen grauen Schwingen zu entfernen, aber er hat keinen Erfolg. Bald gibt er erschöpft auf. Er sieht viele andere Artgenossen, schwarz wie er selbst, die sich an die Küste gerettet haben und mit aller Kraft versuchen sich zu säubern. In kurzer Zeit wird er immer schwächer und ihm ist kalt, er friert so sehr, wie er es noch nie in seinem kurzen Leben getan hat. Bald werden die ersten Opfer der menschlichen Vermessenheit an die Küste gespült. Nach kurzem kraftlosen Kampf gehört auch der kleine Pelikan zu ihnen.