Der ländliche Raum im Wandel: Ein Sommermorgen-Spaziergang

Ich werde von der Morgensonne, die in mein Zimmer scheint, geweckt. Es ist ein schöner Sommermorgen und ich habe Ferien, deshalb beschließe ich einen Spaziergang zu machen. Weil es noch vormittags ist, ist es angenehm warm, aber nicht heiß, und es weht ein leichter Wind. Ich gehe auf dem Feldweg, der direkt hinter unserem Garten am Dorfrand anfängt. Am Vortag haben viele Bauern ihre Wiesen gemäht und lassen das Gras trocknen, bevor sie es als Heu einfahren. Deshalb liegt der wundervolle Duft von trocknendem Gras in der Luft, den ich immer mit den Sommerferien verbinden werde. Ich atme tief ein und schließe für einen Moment die Augen. Das Leben im Dorf auf der Schwäbischen Alb ist eben genau das Richtige für mich, so bin ich aufgewachsen und ich verbinde viele schöne Erinnerungen mit diesem Ort, dieser Landschaft und diesen Sinneseindrücken, wie zum Beispiel den Grasgeruch.

Mittlerweile bin ich fast am Waldrand angekommen, vorbei an Wiesen und Weiden mit Kühen, die den Morgen nutzen, um zu fressen, und sich mittags unter die Bäume in den Schatten legen.

Früher wurde auf den meisten Äckern noch niedriges Getreide, wie z.B. Weizen, Gerste oder Hafer, angebaut, jetzt steht auf den meisten Äckern Mais und versperrt mir die Sicht. Die goldgelben Äcker mit blauen Kornblumen und rotem Klatschmohn sind mehr und mehr den hohen Maispflanzen gewichen. Auch die meisten der inzwischen gemähten Wiesen sind hauptsächlich grün durch die hochproduktiven Gräser und haben verglichen mit den bunt blühenden, vielfältigen Blumenwiesen an Schönheit eingebüßt. Wenn ich überlege, wie viele Schmetterlinge es früher auf unseren Wiesen gab und wie gerne ich sie mir angeschaut habe, fällt mir besonders auf, dass ich mittlerweile nur noch sehr wenige sehe. Dadurch hat die Landschaft deutlich an Vielfalt und Schönheit verloren.

Über dem Wald ragen die Rotoren mehrerer Windkraftanlagen auf. Drei wurden vor fünf Jahren aufgestellt, vor zwei Jahren sind fünf weitere dazugekommen und in einem Jahr sollen weitere gebaut werden. Zwei der geplanten Anlagen wurden nicht genehmigt, da sie an ihrem Standort eine Gefährdung für ein Rotmilanpaar dargestellt hätten. Darüber haben sich einige Leute aus der Umgebung beschwert. Die meisten aber waren gegen die Windkraftanlagen und obwohl sie im Normalfall auch über den Naturschutz hergezogen wären, dass wegen zwei Tieren die Genehmigung versagt wird, haben einige in diesem Fall betont, wie wichtig der Naturschutz doch sei. Das fand ich ziemlich heuchlerisch, da sie im Allgemeinen über den Naturschutz herziehen, aber wenn es einmal in ihrem Interesse ist, sich selbst als große Naturschützer inszenieren.

Inzwischen bin ich am Wald angekommen. Den Waldweg, auf dem ich letzten Sommer noch gegangen bin, gibt es nicht mehr. Die Betreiber des angrenzenden Steinbruchs wollten diesen erweitern, also musste ein Stück Wald samt diesem Weg weichen. Auch mit diesem Weg verbindet mich vieles aus meiner Kindheit. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie meine Schwester und ich als Kinder in den Ferien oft mit den Fahrrädern in den Wald gefahren sind und dort gespielt haben.

Als Ersatz für den alten Weg wurde ein neuer angelegt. Aber irgendwie ist es nicht dasselbe Gefühl, wie auf dem alten Weg zu gehen, mit dem ich so viele Erinnerungen verbinde. Es ist, als ob ein Teil meiner Kindheit unwiederbringlich weg ist. Und trotzdem bleibt die Erinnerung daran, und an die vielen schönen Sommer meiner Kindheit, die mir niemand nehmen kann. Genauso geht es mir mit allen Veränderungen in dieser Landschaft. Vieles gefällt mir nicht, wie der viele Mais und die artenarmen Wiesen, aber manches ist eben auch ein Fortschritt, wie die Windkraftanlagen für sauberen Strom. Die Landschaft verändert sich gefühlt immer schneller: Ob sie das zum Positiven oder Negativen tut, ist unsere Verantwortung, die wir übernehmen müssen.

Barbara Neher