Fluss durch die Jahreszeiten

Vorsichtig und kritisch, aber doch erfüllt von einer geheimnisvollen Vorfreude bahne ich mir einen Weg durch die Zweige. Als  ich mit dem Bommel meiner gestrickten Wollmütze einen Ast streife, rieselt feiner Schnee auf mich herab. Doch ich achte nicht darauf. Zu sehr zieht mich der Anblick in seinen Bann, der sich mir jetzt bietet, nachdem ich das Gestrüpp durchquert habe: Eine spiegelnde Eisfläche, eingerahmt von hohen Bäumen, die von Raureif geziert werden. Langsam wage ich mich weiter ans Ufer, klettere die Böschung hinab und setze behutsam erst den linken, dann den rechten Fuß auf den erstarrten Fluss. Ich richte mich auf und bewege mich sachte vorwärts. Die Kufen meiner Schlittschuhe gleiten leise knirschend auf dem harten Untergrund dahin. Ich ziehe einige Kreise auf dem Eis, um meine verzauberte Umgebung besser in Augenschein nehmen zu können.

Unmittelbar muss ich zurückdenken an einen Winter, der inzwischen fünf Jahre zurück liegt. Damals war die Eger, das kleine Flüsschen, das die Häuser meines Heimatdorfs im Osten von den Wiesen und Feldern trennt, zuletzt zugefroren. Seitdem wartete ich sehnsüchtig auf einen Winter, der kalt genug war, um sie in eine Schlittschuhbahn zu verwandeln. Hier wird der Klimawandel deutlich: laut den Erzählungen meines Vaters war die Eger zu Zeiten seiner Kindheit noch jedes Jahr gefroren.

Überglücklich darüber, dass es endlich wieder so weit ist, werde ich mutiger und schlittere den Fluss entlang. Unter mir zieht das gleisende Eis vorbei. Mir fällt auf, dass es immer wieder von Rissen durchzogen wird. Hin und wieder wird das gleichmäßige Schaben meiner Schlittschuhe auf dem Eis von einem Krachen durchzogen. Neue Risse. Die ersten Male zucke ich zusammen und schaue mich erschreckt um. Doch dann erinnere ich mich daran, dass es sich noch immer so angehört hat, wenn ich auf der Eger oder einem See Schlittschuhlaufen war. Mein Vertrauen in das Eis wächst wieder, ich werde immer schneller, während zu meiner Linken das Dorf vorbeizieht. Ich genieße das Gefühl der Freiheit, das sich in mir ausbreitet, während ich so dahin gleite. Viel zu schnell habe ich die untere Mühle erreicht. Wo früher ein Wehrabsturz war, wird der Höhenunterschied jetzt durch einige flache Stufen aus Steinen ausgeglichen, über die auch bei dieser Kälte immer noch das Wasser plätschert. Hier fließt es zu schnell, um gefrieren zu können. Für mich bedeutet das, dass ich umkehren muss. 

Doch mein Blick bleibt an den Steinen hängen, die im Uferbereich je nach Wasserstand oft nicht komplett überspült werden. Vor mein geistiges Auge treten verschiedene Erinnerungen. Raureif und Schnee verschwinden, die Bäume bekommen hellgrüne Blätter, durch die die Sonne lustige Schatten auf das aufgetaute Wasser wirft. Meine Cousine und ich genießen unser Picknick, während das kühle Nass zwischen den Steinen unter uns hindurchströmt. Langsam verblassen unsere Umrisse wieder. Wind kommt auf, die Blätter verfärben sich gelb und orange und ich sehe meine Brüder und mich, wie wir als kleine Kinder dort am Ufer hocken und unsere selbst gebastelten Schiffchen aus Holz schwimmen lassen, die mit Schnüren am Forttreiben gehindert wurden. Während auch dieses Bild wieder verschwindet, verwandelt sich das Plätschern in ein Rauschen. Das Wasser steigt immer höher, überschwemmt die Steine, auf denen wir bis vor kurzem noch saßen, tritt schließlich über das Ufer und breitet sich über die angrenzenden Wiesen aus. Da sich das Dorf auf der etwas höher gelegenen Seite der Eger befindet, werden die Häuser vom Hochwasser verschont. Lebendige Gedanken an Tage, die längst zurück liegen. An verschiedene Jahreszeiten. Doch auch dieses Bild verblasst nach und nach. Die Flut schwillt wieder ab und das Wasser erstarrt. Alles um mich wird wieder winterlich weiß. Schnee und Eis glitzern jetzt in den schwachen Strahlen der tief stehenden Sonne, die es inzwischen geschafft hat, sich durch den Nebel zu kämpfen. Ich werfe einen letzten Blick auf die Steine, dann drehe ich mich um und gleite den Fluss wieder hinauf. Zurück bis an die Stelle, an der ich das Eis betreten habe und noch weiter… Sarah Zellinger