Stadtmotor Kultur

Veröffentlicht am |

Charles Landry

- 5. Handelstag in Nürtingen ergründet Synergien zwischen Betriebswirtschaft und Stadtplanung -

NÜRTINGEN (hfwu). Der Abwärtstrend des Einzelhandels in den Innenstädten hält an. Neue Lösungsansätze sind gefragt, auch an den Hochschulen. Was Betriebswirtschaft und Stadtplanung voreinander lernen können zeigte der Handelstag an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen. Ein besonderes Augenmerk lag auf der Rolle der Kultur.

Ein Festival der Bürokratie? Dort, wo andere denken, das passt nicht zusammen, dort fängt Charles Landry an zu denken. „Bürokraten sind weder dumm noch unkreativ“, so der Urbanitätsforscher und Hauptredner der Tagung. Rund einhundert Studierende, Wissenschaftler und Fachleute aus Kommunen und Verbänden waren zu der von der HfWU und vom Handelsverband Baden-Württemberg (HBW) organisierten Veranstaltung in der Nürtinger Stadthalle gekommen.

Ein Festival der Bürokratie hat Landry tatsächlich im vergangenen Jahr in Berlin auf die Beine gestellt. Es ist eins der vielen weltweit realisierten Projekte, mit denen der Brite zeigt, wie oft unsichtbare kreative Potenziale für die Entwicklung einer Stadt nutzbar gemacht werden können. Dahinter steckt der Grundgedanke der „Creative City“. Danach ist grundsätzlich die Kultur einer Stadt der Motor, der Entwicklungen voranbringt. Das Konzept hat Landry bereits in den 80er-Jahren entwickelt. In Gang gesetzt und eingebunden werden kann die schlummernde Kreativität in allen Bereichen des städtischen Lebens – selbst in den Tiefen der Bürokratie.

Gerade in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen komme dem kulturellen Motor zudem eine wichtige identitätsstiftende Funktion zu. Als Beispiele nannte der Stadtforscher Rotterdam, das ein altes Marktareal als lebendiges Zentrum der Stadt wiederaufleben ließ. Im ukrainischen Lviv fand als Gegenentwurf zum auf allen Gesellschaftsebenen vorherrschenden Misstrauen eine „Biennale des Vertrauens“ statt. Freiburg machte das ökologische Bewusstsein zum Selbstverständnis der Stadt.

„Bei der Stadtentwicklung wird Kreativität oft als letztes gedacht, dann wenn alles andere erledigt ist“, bemängelte der 70-Jährige. Er forderte: „Wir müssen von einer ‚Nein, weil‘- zu einer ‚Ja, wenn‘-Kultur kommen, von einer Kultur des Bedenkenträgertums zu einer Kultur der Offenheit.“ Kreativität, Teilhabe, Empathie, Kultur und öffentliche Räume seien das, was Lebendigkeit und Urbanität ausmachten und worauf auch der Handel angewiesen sei – nicht umgekehrt.

Dem widersprach Sabine Hagmann. „Die Stadt braucht uns mehr als wir die Stadt“, so die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg. In ihrer Standortbestimmung des Handels hob sie die gesamtwirtschaftliche Bedeutsamkeit der Branche hervor. Nachholbedarf gäbe es auf allen Ebenen bei der Digitalisierung. Der Handel müsse noch „empathischer“ werden, zudem gelte es unter anderem Aspekte wie Zugänglichkeit und Komfort sowie die Netzwerkbildung zu stärken. Bei allen Herausforderungen und Umbrüchen, an einem werden die Menschen festhalten. „Das Shopping wird bleiben“, ist sich die Verbandsvertreterin sicher.

Den Blick über den Kunden hinaus wirft die kommunale Online-Plattform für die Stadt Kirchheim unter Teck. Zu den Machern des Projekts gehören unter anderem HfWU-Professor Dr. Dirk Funck und Klaus Bröhl, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens Integrated Worlds. Sie stellten den aktuellen Stand des prototypischen Projekts vor, das sie als digital unterstütztes umfassendes Stadtkonzept verstehen. Einbezogen werden dabei alle städtischen Akteure, selbstverständlich auch die Verwaltung und, vielleicht angeregt durch den lebendigen Vortrag von Charles Landry, künftig sogar ein Festival der Bürokratie.

Udo Renner, 5.6.2019