Gemeinsame Gestaltungsfreude – Ideen für Nürtingens (Un-)Orte

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Prof. Dr. Tobias Loemke und Prof. Dr. Birgit Kröniger mit einem „Stecknadelkopf“ des Entwurfs „Entdeckungsreise“. (Foto: hfwu/renner)

- Landschaftsarchitekten und Kunsttherapeuten der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) stellen gemeinsame Entwürfe zur Stadtgestaltung vor -

NÜRTINGEN (hfwu). Im Rahmen des Projekts „Vor Ort – Landschaftsarchitektur triff Kunsttherapie“ arbeiteten an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) erstmals Studierende beider Disziplinen in einem Seminar zusammen. Im Blickpunkt: Orte und Unorte in Nürtingen und ihr Potenzial für Kommunikation und Teilhabe in der Stadt.

Ein Sprichwort sagt „Orte lassen sich lesen wie Gesichter. In beiden offenbart sich die Seele“. Die Seele einer Stadt, ließe sich mit Blick auf das interdisziplinäre Projekt an der HfWU ergänzen. Im Sommersemester setzten sich Studierende aus landschaftsarchitektonischer und kunsttherapeutischer Perspektive mit von ihnen gewählten Orten in Nürtingen auseinander. An welchen Stellen kommen die Menschen in der Stadt zusammen, an welchen nicht? Was zeichnet die Orte aus? Und wie könnten sie gestaltet werden, um das Gespräch und das Miteinander der Menschen zu fördern? Auf diese Frage gaben die Studierenden so ideenreiche wie kreative Antworten. Zum Abschluss des Projekts präsentierten die fünf gemischten Gruppen ihre Entwürfe in der Seegrasspinnerei in Nürtingen.

Der Neckar ist in Nürtingen ein Ort, der verbindet, zu dem Menschen kommen und gehen, an dem sie länger oder kürzer verbleiben, einzeln oder in Gruppen – wie das Treibholz im Fluss. Diesem Gedanken folgend wählte eine Gruppe Schwemmhölzer und Stämme als Gestaltungselemente für verschiedene Stellen am Neckarufer. In die Stämme sind Fragen eingelassen wie „Wofür lebst du?“ und „Was macht Gemeinschaft aus?“. Sie sollen zum Verbleiben und zum Gespräch anregen.

„Der Raum ist ein menschengemachter Zusammenhang. Menschen als Akteure oder Nutzer prägen den Raum durch ihr Alltagshandeln, in ihrer Wahrnehmung oder als Gesprächspartner und Akteure. Und der Raum beeinflusst die Menschen in ihm und ihre Eindrücke“, sagt die Landschaftsarchitektin und Stadtplanerin Prof. Dr.-Ing. Birgit Kröniger. Sie leitet an der HfWU zusammen mit dem Kunstpädagogen Prof. Dr. phil. Tobias Loemke das Projekt. „Beide Studiengänge, die Landschaftsarchitekten wie die Kunsttherapeuten, zeichnet eine große Freude aus, Räume und Orte zu gestalten“, bringt Loemke auf den Punkt, wie Ort und Therapie gemeinsam gedacht werden können. Das Spannende gerade an diesem Projekt sei, die verschiedenen Herangehens- und Argumentationsweisen zusammenzubringen. „Die Landschaftsarchitekten haben ein Faible fürs Präzise. Die Kunsttherapeuten sind hier offener. Aus künstlerischer Sicht kann beispielsweise gefragt werden, was befindet sich in den tieferen Ebenen eines Ortes, was sammelt sich an einem Ort“, so Loemke.

An der Hochschule wurde das studienfachübergreifende Projekt von der Initiative PHOENIX (Problemorientierte Hochschullehre im Nachhaltigkeitskontext) begleitet. Zur Vorbereitung des Projekts hatten die Studierenden zwei Kompaktseminare zur Einführung und Methodenschulung besucht. Im Rahmen einer Exkursion nach Nürnberg setzten sich die Bachelorstudierenden (Landschaftsarchitektur und Kunsttherapie) bei Atelierbesuchen mit künstlerischen Interpretationen von Landschaften auseinander. Beim Besuch des Reichsparteitagsgeländes konnten die Studierenden vor (Un-)Ort erfahren, wie wirkmächtig räumliche Gestaltung sein kann.

Auf ganz andersartige „Spuren in der Stadt“ zielt ein so betitelter, weiterer in der Seegrasspinnerei vorgestellter Entwurf. Wir alle, so der Grundgedanke, sind für unser Wohlbefinden darauf angewiesen, Spuren zu hinterlassen, gesehen zu werden. Markierungen helfen, sich zu orientieren. Die Idee: Am Schillerplatz in Nürtingen werden Passanten mit Trolleys ausgestattet, die beim Gehen eine Farbspur hinterlassen. Die Teilnehmer, Gruppen aus allen Altersschichten, sollen sich zu ihren Lieblingsorten aufmachen. So wird die ganze Stadt gemeinsam erfahren und zugleich bunt markiert. Per Drohne wird das Ganze von oben dokumentiert und zeigt so, wo die beliebtesten und unbeliebtesten Orte der Stadt liegen. Jeden Einzelnen und die Gruppe regt es an, über den eigenen (Lebens-)Weg nachzudenken.

Eine „Entdeckungsreise“ in anderer Form schwebt der Projektgruppe vor, die eine Schnitzeljagd zwischen Galgen- und Erzberg in Nürtingen konzipiert hat. Sie möchte die Erwachsenen auf einer Rätselreise zu diesen Aussichtspunkten in der Stadt bringen. Informationen gibt es unterwegs, versteckt in überdimensional großen Stecknadelköpfen. Kinder können sich auf der Entdeckungsreise in Zweierteams sehenswürdige Orte der Stadt sprichwörtlich ausmalen: Ein Kind malt einen Ort oder ein Gebäude lediglich aufgrund der Beschreibung des anderen.

Die Projektgruppe „Freiluft-Atelier“ funktioniert die Unterführung zwischen der Nürtinger Vorstadt und dem Lerchenberg in eine Art Street-Gallery um. Eine Vielzahl von dort angebrachten leeren Bilderrahmen in verschieden Formen und Größen ermöglicht Künstlern, ihre Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Jedermann kann sich jederzeit an der kreativen Befüllung der Rahmen beteiligen. Die Kunstwerke bleiben dabei nur so lange bestehen, bis sie vom nächsten überdeckt werden. „Der Ort wird abwechslungsreich, ständig erfrischt und wiederbelebt“, beschreiben die Studierenden ihre Absicht, der derzeit wenig einladenden Unterführung ein völlig neues Gesicht zu geben.

Liegt beim „Freilust-Atelier“ die Idee darin, einem Ort ganz konkret eine neue optische Gestalt zu geben, so zielt der Entwurf „Einklang“ darauf, einen Ort akustisch zu beleben. Die Brücke der Umgehungsstraße am westlichen Stadtrand wird dabei zum Resonanzkörper. Unter der Brücke, am Neckarufer und im Neckar laden senkrecht aufgestellte, bis zu vier Meter hohe Klangröhren zum Tönemachen ein. Beim Anschlagen schwingen die Röhren in verschiedenen Höhen und drücken so jeweils eine andere Stimmung aus. Ergänzend zum Blau und Grün des angrenzenden Wassers und Ufers sind sie in Gelb, Orange und Rot gehalten. Das Ansprechen der Sinne schafft eine Verbindung zwischen Ort und Menschen, so der Grundgedanke des Entwurfs.

Die fünf Entwürfe sind in Form von Posterpräsentationen noch bis zum 20. September in der Nürtinger Seegrasspinnerei (Plochinger Straße 14/6, Kontorhaus, 1. Stock) werktäglich von 9 bis 18 Uhr zu sehen. Kommende Woche stellen die Studierenden ihre „Vor Ort“-Entwürfe der Stadtverwaltung vor. Ob die eine oder andere Idee bei stadtgestalterischen Vorhaben einfließt, wird sich zeigen. Sicher wäre, die Seele der Stadt ließe sich mit der Ideenvielfalt der Studierenden in ganz neuer Form lesen.

Udo Renner, 5.7.2018