Müll und Natur

Ich schlüpfe in meine dick besohlten, soliden Wanderschuhe, stecke meine Arme durch die graue wind- und wasserdichte Winterjacke, binde mir einen fetten Baumwollschal um den Hals und ziehe mir meine merlotrote Wollstrickmütze über den Kopf. Nun bin ich gewappnet für die kalte, frische Luft und den starken Wind vor der Tür. Ich schaue zu meinem Freund, der sich das Gesicht bis über die Nase vermummt hat. Mein Bruder hockt bereits draußen vor der Tür, um den gammeligen, alten Opel Astra in Militärgrün seines Kumpels vor unserem typisch dänischen Ferienhaus zu fotografieren. Er trägt einen großen, schwarzen Rucksack mit seinem Kameraequipment auf dem Rücken. Draußen begrüßt mich ein Windstoß mit salziger Seeluft, durch den meine Nase direkt frei atmen kann. Wir brechen auf durch den Garten des Häuschens, vorbei an Schaukel und Sandkasten in Richtung Strand.

Der Weg führt über Schotterstraßen entlang von Nadelbäumen und weiteren Ferienhäusern, welche jedoch Mitte Januar nahezu alle unbewohnt sind. Das Regenwasser der gestrigen Nacht hat sich in den Schlaglöchern der Straßen gesammelt und bildet unterschiedlich große Pfützen auf den Schotterwegen. Hindurch durch eine Art Tor aus niedrig wüchsigen Kiefern betreten wir einen Sandpfad, welcher uns zum Strand leitet. Seine Oberfläche ist noch durchnässt vom Regen, und als wir am höchsten Punkt des Damms ankommen, begrüßt uns der starke Seewind, der mir direkt alle Gedanken an Abgabeleistungen und anstehende Präsentationen aus dem Kopf pustet. Der Geruch von Salz und das Geräusch tosender Wellen vermittelt mir ein Gefühl von Heimat. Das Wasser bedeckt mehr als die Hälfte des sonst circa 50 Meter breiten Strandes, die Flut zieht sich jedoch schon wieder zurück. Heerscharen von Möwen durchpicken das durch das stürmische Wetter angespülte Strandgut, das einen parallel zum Wasser verlaufenden Gurt aus überwiegend schwarzem Material erzeugt.

Ich schaue nach rechts und sehe die Bunker, die seit dem Zweiten Weltkrieg den Strand besiedeln und mittlerweile Teil der Landschaft geworden sind. Die quadratischen, klumpigen Bunker hier wurden mit Schwanz und Kopf aus - nun bereits gerostetem - Metall als Maultiere verkleidet. Am Horizont ist entfernt der Leuchtturm von Blåvand zu sehen. Wir gehen durch den weichen, fast trockenen Sand weiter runter in Richtung der brausenden Wassermassen, um auf dem verdichteten, nassen Sand zu laufen. Auf dem Strandgut angekommen, spüre und höre ich das knirschende Zerbrechen der angespülten Muscheln unter meinen dicken Sohlen. Ich genieße das herrliche Naturschauspiel mit kaum einer anderen Menschenseele am Meer zu sein, da sich fast keine Touristen dazu entscheiden, zu dieser Jahreszeit für den Urlaub in den Norden zu fahren.

Wir entscheiden uns dazu nach links in Richtung Skallingen, mit dem Leuchtturm im Rücken, zu wandern und stapfen zwischen angespülten Muscheln, Holz und dem Meer. Nach ungefähr zehn Metern fällt mir etwas Orangefarbenes inmitten des natürlichen Strandgutes auf: `Eine Mandarinenschale? Wie kommt die denn hierher? Ich denke nicht weiter darüber nach und gehe weiter. Doch anschließend liegt eine durchsichtige Plastikfolie, halb von Sand und Treibgut verdeckt, in Nähe der Wellen. Danach ein blauer Plastikhandschuh. Und ein orangener. Ein grüner als nächstes.

Ich klettere über die Steine der Wellenbrecher, welche 50 Meter in die Fluten aufgeschüttet wurden. Hinter den Steinbrocken gehe ich weiter entlang der Wasserlinie. Eine Europalette. Ein alter Fotofilm. Ein gelber Spielzeugbagger. Mein Bruder fotografiert alles, was von den Strömungen mit auf den Strand transportiert wurde. Ich bin immer noch schockiert von dem vielen Müll. Die Vögel schwärmen in Tausenden über Sand und Meer und lassen sich von uns nicht stören. Ob sie an kleinen Plastikstückchen sterben, wenn sie denken, diese seien Nahrung? Eine zerdrückte Flasche mit pinker Flüssigkeit. Ein grauer Baumwollschuh. Ein schwarz/grüner Badwischer. Drei weitere Handschuhe in rot, grün und orange. Eine Caprisonne-Plastikverpackung. Zwei schwarze Gummistiefel. Eine weitere Plastikflasche. Eine leere „Dusch Das“ Flasche aus Hartplastik. Mein erholsames Naturerlebnis verwandelt sich in ein knallhartes Erlebnis der Wahrheit: überall befindet sich Müll in unseren Ökosystemen. Ich schaue hinaus auf das Wasser, es sieht so unversehrt und heil aus. Es wirkt nicht so, als würde überall unser Abfall schwimmen. Warum haben Tiere kein Bewusstsein dafür, was Schrott und was essbar ist? Ein rotes Feuerzeug. Ein schwarzer Damenschuh. Eine von grünen Algen umwachsene Kinderschaufel. Wie kommt der ganze Scheiß hier hin? Ich klettere über den nächsten Wellenbrecher. Dann bleibe ich kurz stehen, um in die schäumenden Wellen, die an den Steinen zerbrechen und in Richtung Himmel spritzen. `Warum haben wir so wenig Verständnis für die Natur? Warum sind wir so egoistisch und nehmen keine Rücksicht auf unsere Lebensgrundlage? ´

Ich muss daran denken, was mein Freund mir letztens auf Facebook vorgelesen hat: „Die größten vertuschten Umweltkatastrophen in dem Jahr 2016.“ In dem Artikel wurde von Ölkatastrophen und Atomlecks berichtet. Alles fließt in die Meere und verpestet das Wasser, die Tiere und die Pflanzen, die dort leben. Es schadet den Menschen, die in den betroffenen Regionen zuhause sind.

Läuft aus der Bohrinsel, die sich in Nähe der Küste des Jytlandes befindet, auch Öl aus? Ich frage mich wieder, warum wir Menschen so dumm sind. Ich denke daran, wie der Müll, den ich hier sehe, nur ein winziger Teil dessen ist, was sich im Gesamten in den Weltmeeren befindet. An die vielen Unfälle, die tagtäglich passieren und unsere Natur zerstören. An die Menschen, welche tagtäglich die Natur auf absichtliche Weise zerstören, um Profit zu ergattern. An die tausenden von Arten, die täglich aussterben.

Eine durchsichtige Plastikfalsche mit Orangensaft. Ein Tetrapack mit unkenntlicher Aufschrift. Ein knallgrünes Fischernetz. Ich versuche meinen Spaziergang zu genießen. Meine Hände sind kalt und ich beschleunige meinen Schritt, damit mir wieder warm wird. Ich schaue mich um und realisiere, dass ich circa hundert Meter vor den Jungs gehe. Ich beschließe, am nächsten Wellenbrecher auf die beiden zu warten, und marschiere weiter. Der Himmel bietet ein fantastisches Farbenspiel über mir. Ich bemerke, dass ich auf eine riesige schwarze Wolkenwand zugehe, über dem Meer lugt die Sonne jedoch durch die weiß/grauen Wolkentürme. Wird es regnen oder wird die Sonne sich durchsetzen?

 

Eine verrostete Sprühdose. Ein rotes Tau. Ein weiterer Gummistiefel. Ich bin am nächsten Wellenbrecher angekommen. Auf der anderen Seite spülen die Wellen weitere zwanzig Meter den Strand hoch und bilden dort einen kleinen Wall, der von unten leicht unterspült wird. Ich stelle mich in Richtung Wasser und somit in Windrichtung. Der starke Westwind pustet an meinem Reißverschluss durch den Stoff und ich drehe mich mit dem Rücken zur brausenden Nordsee. Die anderen sind immer noch fünfzig Meter weit entfernt. Was haben die die ganze Zeit getrieben? Ein Mann mit leuchtend orangener Weste, olivgrüner Hose, passenden Gummistiefeln und einem Kescher in der Hand nähert sich mir aus der entgegengesetzten Richtung. Er sucht wahrscheinlich nach Bernsteinen, die durch den Sturm an die Küste gespült werden. Besonders im Sommer versammeln sich Urlauber am Strand und durchwühlen wie besessen den angespülten Schlick nach dem Gold der Meere. Sollten sie doch lieber mal den Schrott einsammeln, dann wäre zumindest ein Teil dessen beseitigt, denke ich. Jetzt haben auch die beiden Kerle meinen Standpunkt erreicht. Wir beschließen den Heimweg anzutreten, da die Regenfront sich nähert. Da der Akku der Kamera meines Bruders nach zehntausend Fotos nun leer ist, gehen wir gemeinsam. Die beiden erzählen mir, dass sie einen Staudamm vor einem Rohr gebaut haben, das Wasser ins Meer ableitet. Deshalb haben die so lange gebraucht.

Wir gehen nun weiter oben am Strand, bis zu unserem Ausgang. Hinter dem Damm weht der Wind schwächer, mir wird wieder richtig warm. Zurück am Ferienhaus begegnen wir unserer Mutter und ihrem Freund, die ebenfalls zu einem Strandspaziergang aufbrechen. Im Haus umhüllt mich die warme Kaminluft. Ich ziehe meine Wintersachen aus, stelle meine Schuhe ab und koche mir einen Kaffee. Nun fühle ich auch die Erschöpfung in meinen Beinen von dem langen Spaziergang. Trotz der ernüchternden Einsicht hat mir das Laufen draußen gutgetan. Wie sah die Welt wohl vor unserem Einfluss aus? Wie fühlt sich unberührte Natur überhaupt an? Ich setze mich an meinen Laptop und fange an zu schreiben. Hier von drinnen sieht alles wieder so unschuldig, unbelastet und unberührt aus.

 

Tessa Nowag