Einfach nur da sein und zuhören

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Mit gewohnten Materialien finden die Jesidinnen schneller Zugang zu eigenen Ausdrucksformen.

Lisa Meyle vor ihrem Tuch, das als Kunstwerk den Dialog mit den Frauen erfahrbar macht.

- Kunsttherapeutisches Projekt der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) begleitet geflüchtete jesidische Frauen -

NÜRTINGEN (hfwu). Im Rahmen eines besonderen Schutzprogramms haben jesidische Frauen in Baden-Württemberg eine neue Heimat gefunden. Eine Kunsttherapie-Studentin der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) hilft den traumatisierten Frauen mit einem ungewöhnlichen Zugang wieder Vertrauen zu fassen.

Manche der Frauen schlafen noch, wenn Lisa Meyle in die Gemeinschaftsunterkunft kommt. Andere haben damit begonnen, das gemeinsame Frühstück herzurichten. „Viele der Frauen haben aufgrund der schrecklichen Erlebnisse Schlafstörungen und kommen nachts kaum zur Ruhe“, erklärt die Kunsttherapiestudentin. Einen Vormittag in der Woche kommt Meyle zu den Frauen im Alter zwischen 17 und 33 Jahren. Alle sind durch die IS-Gefangenschaft schwer traumatisiert und haben 2014 beim Überfall der Terrormiliz auf das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak Angehörige verloren.

„Es ist eine ziemlich intime Sache, manche der Frauen zu wecken und schon beim Aufstehen da zu sein“, beschreibt Meyle die morgendliche Situation. Genau dies, einfach da zu sein, ist Kern des Zugangs zu den Frauen. Mit der nötigen Offenheit in der kunsttherapeutischen Zusammenarbeit und Flexibilität in der Vorgehensweise begegnet Meyle den Frauen. Die Aufgabe, ein eigenes Projekt und einen ganz eigenen Zugang zu diesem zu finden, gehört zu den wichtigsten Bausteinen des Masterstudiengangs Kunsttherapie an der HfWU. Studiendekan Prof. Dr. Tobias Loemke zeigt sich beeindruckt, wie seine Studentin mit den jesidischen Frauen einen Raum schafft für gemeinsame Begegnung. „So umsichtig und behutsam vorzugehen, vor allem aber das Zuhören in den Mittelpunkt zu stellen, schafft nicht nur eine Vertrauensbasis. Es ermöglicht, auf einer tieferen Ebene in Kontakt zu gehen, sich aufeinander einzuschwingen, über das gegenseitige Fremdsein hinweg.“

Bei der Frühstücksvorbereitung und beim gemeinsamen Essen beginnen die Frauen sich zu öffnen, erzählen von ihrer Trauer, den Schmerzen, vom ausgelöschten Leben in der irakischen Heimat. „Aber oft ist es auch lustig, wir lachen viel“, betont Meyle. Die Verständigung funktioniert trotz Sprachbarriere. Die meisten der Jesidinnen sind nur wenige Jahre zur Schule gegangen, manche können weder lesen noch schreiben. Ein Zugang auf der sprachlichen Ebene bleibt schwierig.

Nachdem das Frühstück weggeräumt ist liegen Stoffe und Wolle auf dem Tisch. „Das vertraute Material nimmt den Frauen die Unsicherheit. Sie können sich leichter darauf einlassen, damit zu arbeiten“, erläutert die Studentin. Der personenzentrierten Therapie entsprechend, überlässt Meyle die Themenfindung in dem Projekt den Frauen. Im Mittelpunkt steht im Hier und Jetzt zu sein, unbeschwert etwas zu tun, nicht das Ergebnis. Entstanden sind bisher Vorhänge für die Gemeinschaftsunterkunft, Waschlappen und Häkelarbeiten, mit Buchstabenstempeln werden Stoffe bedruckt, so wächst nebenbei der Deutsch-Wortschatz.

Ein wichtiger Teil der Arbeit ist für Meyle ein Tuch, auf das sie kurze Sequenzen aus den Dialogen mit den Frauen gestickt hat. Das Tuch wurde so zu einer Resonanzarbeit. Es dokumentiert als Kunstwerk nicht nur die Zusammenarbeit, sondern schärft das Wahrnehmen als Künstlerin und Kunsttherapeutin und es teilt dem Betrachter visuell erfahrbar mit, wie sich die Kommunikation zwischen den Frauen ereignet.

Das Projekt ist keine Traumatherapie. Vielmehr geht es darum, Ressourcen orientiert und stabilisierend zu arbeiteten, erklärt Meyle. So kann der Weg für eine mögliche Therapie bereitet werden. Das Sonderprogramm für die Jesidinnen, in dessen Rahmen auch das kunsttherapeutische Projekt läuft, geht auf eine Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann zurück. Das Land übernimmt im Rahmen der Hilfen Therapiekosten, die über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen. Ob die Frauen eine Traumatherapie machen können und möchten liegt in ihrer eigenen Entscheidung. Insgesamt leben derzeit rund 1000 verfolgte und misshandelte jesidische Frauen und Kinder verteilt auf 21 Landkreise in Baden-Württemberg.

Nächste Woche ist Lisa Meyle wieder bei ihren jesidischen Frauen, als Kunsttherapeutin und doch zu allererst als Besucherin, die zum kulturellen Frühstück eingeladen wird. Nach Gewalt, Gefangenschaft und Flucht machen die Frauen die heilsame Erfahrung, gesehen, gehört und wertgeschätzt zu werden. Sie können Gastgeberinnen sein in der Fremde.