„Wir müssen uns vom Auto verabschieden“

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Prof. Dr. Sven Kesselring (Foto: Barbara Peter)

- Interview mit dem Mobilitätsforscher Prof. Dr. Sven Kesselring -

Wir leben in einer mobilen Risikogesellschaft, sagt Dr. Sven Kesselring, Professor für nachhaltige Mobilität an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU). Im Zuge einer langen Entwicklung ist Mobilität ein höchst erstrebenswertes, kulturelles Gut geworden – das sich mehr und mehr seiner eigenen Grundlagen beraubt. Eine nachhaltige Mobilität wird es nach Überzeugung von Kesselring nur geben, wenn wir Abschied vom Auto nehmen, wie wir es bisher kennen.

Beim Thema Mobilität sind jüngst Elektro-Tretroller, autonomes Fahren und in steter Wiederkehr ein Tempolimit auf Autobahnen in der Diskussion. Ist allein mit technischen Lösungen eine neue, nachhaltige Mobilität zu schaffen?

Neue Fortbewegungsmittel und technologische Lösungen spielen hier sicher eine wichtige Rolle. Oft wird aber in dieser Diskussion übersehen, dass in der Mobilität die Grundwerte unseres modernen Lebens eingeschrieben sind: Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung. Mobilität ist ein Kulturgut, tief verankert in institutionellen Routinen, im Denken, Fühlen und im historisch gewachsenen Erfahrungsschatz.

Was bedeutet das für die Entwicklung einer neuen Vorstellung von einer nachhaltigen Mobilität?

Das heißt vor allem, dass es hier dicke Bretter zu bohren gilt. Nachhaltige Mobilitätskulturen liegen nicht an der gesellschaftlichen Oberfläche. Man muss die Menschen emotional erreichen. Man muss an ihre lebensweltlichen Orientierungen heran, man muss ihnen Angebote machen, die einleuchten, die Freude machen und die Sinn stiften. Im Vergleich dazu ist die Frage, wie Elektromobilität flächendeckend implementiert werden kann, ein relativ einfach zu realisierendes Unterfangen.

Eine neue Mobilitätskultur und ein Überdenken von Gewohntem – das heißt: der Abschied vom Auto?

Absolut richtig. Wir müssen uns vom Auto verabschieden, wie wir es kennen. Anders wird es keine nachhaltige Mobilität geben. Aber eine Entweder-Oder-Diskussion – entweder beim Individuum anzusetzen oder bei gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen – führt hier nicht weiter. Ich schlage vor, dass wir über beides zugleich nachdenken. Denn Rahmenbedingungen, etwa die Frage, ob Mobilität nachhaltig wird durch elektrische Antriebe, Wasserstoff, autonome Fahrzeuge, die Sharing Economy oder die Besteuerung von CO2-Emissionen, diese Rahmenbedingungen wirken sich natürlich auf die alltägliche Mobilitätspraxis aus. Wenn ich nur 25 Euro zahle, um von Berlin nach Kopenhagen zu fliegen, beeinflusst das meine Entscheidung für oder gegen die Bahn. Und sicher wird es beim Beschreiten dieses Wegs auch Konflikte geben, denn hinter jedem Verkehrsmittel oder einer konkreten Lösung stehen immer Interessensgruppen. Das Auto wird in Zukunft nur noch ein, wenn auch wesentliches Element in einem Gesamtsystem sein. Seine zentrale Stellung wird es verlieren.

Nachhaltig und zukunftsfähig wäre für Sie ein „System der Multimobilität“.Was meinen Sie damit?

Es gibt nicht eine einzige nachhaltige Mobilitätskultur. Es gibt viele, die sich nachhaltig gestalten lassen. Mobilität in New Delhi sieht komplett anders aus als in Lausanne, Berlin oder Atlanta. Ich meine damit, dass man nicht den Fehler machen darf, nach der Kultur der Automobilität nach dem nächsten Universalmodell zu suchen. Stattdessen gilt es, im Übergang die Vielfalt neuer Mobilitätslösungen so zu nutzen und einzusetzen, dass man die bestmögliche Konfiguration für die jeweilige Stadt oder die Region ermöglicht. Dabei gilt es, eine möglichst große Flexibilität dieser Konfiguration zu gewährleisten. Es muss möglich sein, aus Fehlern zu lernen und Entwicklungen neu zu gestalten.