Tag der Immobilie: Ganze Bevölkerungsteile werden abgehängt

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Foto: Die Studierenden der Initiative Ladies Lunch halfen bei der Organisation. Der Vorsitzende des Freundeskreises Immobilienwirtschaft Herbert Klingohr neben der Preisträgerin Nadja Mauch, Dr. Peter Haueisen von der Allianz AG und Moderatorin Gisela Vogt.

Tag der Immobile an der HfWU: Die Branche vor großen Herausforderungen

NÜRTINGEN (hfwu). Zufall oder nicht: Gleichzeitig zum Weltfrauengipfel in Berlin hielt die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Geislingen den „Tag der Immobilie“ ab. Die Gemeinsamkeit hier wie dort: Die Rednerinnenliste umfasste ausschließlich weibliche Expertinnen. Das Thema war dagegen gänzlich geschlechtsneutral: Wohnen-Leben-Arbeiten zukünftige Herausforderungen und heutige Antworten.

Der einzig männliche Redner, Geislingens Oberbürgermeister Frank Dehmer, ergriff nach der HfWU Prorektorin Prof. Dr. Carola Pekrun das Wort und beschrieb, wie sich die Entwicklungen im Immobiliensektor vor Ort niederschlagen. Ob Berlin Hamburg München oder Stuttgart – auch eine Stadt wie Geislingen ist mit demographischem Wandel konfrontiert, spürt die Auswirkungen der Digitalisierung und steigende Mobilität. All dies verändert die Wohntrends, sorgt für Wandel in den Quartieren und erzeugt Leerstände in den Innenstädten. „Die Bevölkerung, ist kaum noch sesshaft“.

180.000 Immobilienprofis weltweit vertritt Dr. Louise Brook-Smith als Weltpräsidentin der RICS Royal Institution oft the Chartered Surveyors. Ihre globale Perspektive, der eigens aus Birmingham angereisten Rednerin, unterschied sich wenig vom lokalen Blick des Geislinger Stadtoberhauptes. Allerdings waren die Dimensionen andere: Der Trend in Städten zu wohnen nimmt zu, bis 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Es entwickeln sich alternde aber auch junge Gesellschaften, vor allem in Kontinenten außerhalb Europas. Und alle diese Entwicklungen sind von Unsicherheiten geprägt: In Bezug auf die Politik, die Umwelt, die Ressourcen und die wachsenden Ungleichheiten. Immobilieninvestitionen werden dabei laut Brooke-Smith zu einer boomenden Anlageform. Die Mittelschichten explodierten förmlich und die Nachfrage nach Wohnraum in den Städten steigt ebenso. Für Immobilienexperten wie der RICS-Präsidentin müssten dies goldene Zeiten sein. Sind es auch: Brooke-Smith sieht einen enormen Bedarf an Beratung und Expertise in den Märkten und für die HfWU-Studierenden beste Arbeitsmarktchancen. Allerdings kritisiert auch sie die wachsende Ungleichheit in den Vermögensverhältnissen, die direkt auf die Märkte durchschlagen.

Die Auswirkungen zeigen sich längst auch hierzulande: „In Berlin wird die Nachfrage nach Wohnraum nicht einmal zur Hälfte gedeckt“, so die Stuttgarter Projektentwicklerin Bianca Reinhardt Weith. Die Reallöhne könnten hierzulande mit der Baupreisentwicklung nicht mehr mithalten. Ganze Bevölkerungsteile seien abgehängt. Die Zeit der Einfamilienhäuser in den Städten sei vorbei, es müsse revitalisiert, nachverdichtet und kleiner gebaut werden. Es gäbe mehr Einpersonenhaushalte und eine völlig andere Form der Mobilität, die mehr auf Teilen denn auf Besitzen setzt. Die Flächen, die heute von stehenden Fahrzeugen belegt würden, stünden schlicht nicht mehr zur Verfügung. Ein Umdenken sei notwendig und werde in der Branche auch längst vollzogen. Kleinere Wohneinheiten, Mehrfamilienhäuser und Mikroapartments sind die städtebaulichen Erfordernisse der Zeit. „Qualitäten, Lage und Größe, alles muss auf den Prüfstand“, so Reinhardt Weith.

Die Zukunft in der Realität beschreibt Dr. Kerstin Hennig. Stand bei ihrer Vorrednerin noch das Wohnen im Mittelpunkt, legte sie den Akzent auf künftige Arbeitsumfelder. Gateway Gardens heißt ein 35 Hektar großes futuristisches Geschäftsviertel, das derzeit in unmittelbarer Nähe zum Frankfurter Flughafen entsteht. Wohnen spielt auf dem ehemaligen Militärgelände keine Rolle. Dafür sollen in dem künftigen „Global Business Village“ bis zu 18 000 Menschen arbeiten. Direkt angebunden an die Terminals, mit eigenem S-Bahn Anschluss eingebettet in einen 200 Kilometer großen Einzugsbereich, der 38 Millionen Menschen beheimatet. Kitas, 24-Stundensupermärkte, eine eigenen Klinik, Park- und Sportflächen und eine perfekte Infrastruktur für die global mobile Arbeitsgeneration von morgen, für die Austausch und Netzwerke im Vordergrund stehen. Das ist die Rezeptur, die Investoren locken und innerhalb von 20 Jahren eine neue Stadt entstehen lassen soll, die heute bereits die Entwicklung künftiger Jahrzehnte vorweg nimmt. Für Geislinger Studierende der Immobilienwirtschaft, die zukünftige Projektentwicklung kennenlernen wollen, ist Gateway Gardens ein lohnendes Exkursionsziel.

Ursula Hartenberger, die ebenfalls für die RICS in Brüssel die globale Nachhaltigkeitsstrategie verantwortet, versuchte den Dreiklang wohnen, leben, arbeiten in Einklang zu bringen. Nachhaltigkeit sei auch für die Immobilienpraxis das Gebot der Stunde, dem sie sich seit 20 Jahren widmen würde. Die Ziele der Vereinten Nationen fänden sich auch in den RICS Zielen wieder. Bereits seit 2006 seien alle Mitglieder des Verbandes auf diese verpflichtet und müssten entsprechende Nachweise erbringen. Doch es müsste nach wie vor das „Silodenken“ aufgebrochen werden. Noch immer würde auch Nachhaltigkeit nach ihrem „Wert“ beurteilt. „Wir müssen hier umdenken. Wert bezeichnet das Gestern, Nachhaltigkeit ist in die Zukunft gerichtet.“ Dass auch Bildung einen nachhaltigen Wert besitzt, betonte Ehrensenator Herbert Klingohr. Der Freundeskreis Immobilienwirtschaft unterstützt den gleichnamigen HfWU-Studiengang, unter anderem mit Preisen. Nadja Mauch erhielt während des Tages der Immobilie den Allianz Förderpreis für ihre Bachelorarbeit.

Gerhard Schmücker
Nürtingen, 26.04.2017