Keine Energiewende ohne Systemwende

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Die Referentinnen Prof. Dr. Claudia Kemfert und Tamara Fischer sowie die Gastgeber von der HfWU, Rektor Prof. Dr. Andreas Frey, Prof. Dr. Christian Arndt und Carina Plach.

Die Referentinnen Prof. Dr. Claudia Kemfert und Tamara Fischer sowie die Gastgeber von der HfWU, Rektor Prof. Dr. Andreas Frey, Prof. Dr. Christian Arndt und Carina Plach.

- Energieökonomin Prof. Dr. Claudia Kemfert erläuterte im Studium generale an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) Konzept und Dringlichkeit einer „Energiesystemwende“ -

NÜRTINGEN (hfwu). Die Energiewende kann nur gelingen, wenn sie zu einer Energiesystemwende wird. Was unter einer Systemwende zu verstehen ist und warum sich die hohen Investitionen dafür lohnen, erläuterte die renommierte Energieökonomin Claudia Kemfert in einem Vortrag an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU).

Drei Krisen mit einer Klappe schlagen, die Wirtschaftskrise, die Klimakrise und die Energiekrise, das versprach der Titel von Prof. Dr. Claudia Kemferts Vortrag im Rahmen des Studium generale an der HfWU. Wie die Expertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) das konkret angehen will, stieß auf beachtliches Interesse. Rund hundert Interessierte hatten sich zu der Veranstaltung im virtuellen Besucherraum eingefunden.

„Wir leben mitten in einer Krisenwelt“, beschreibt Kemfert die aktuelle Ausgangssituation. Den genannten Krisen könnten noch weitere, etwa die Biodiversitätskrise und die Finanzkrise, hinzugefügt werden. Und: „Uns läuft die Zeit davon.“ Heute gehe es daher mehr als je zuvor darum, ins Handeln zu kommen. Kemfert entwirft dafür auf zwei Ebenen Szenarien.

Zum einen ist jeder und jede persönlich gefragt. „Klimaschutz gibt es nicht im Supermarkt!“, sagt sie und verweist auf ihr aktuelles Buch mit dem Titel "Mondays For Future: Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen". Es gebe unzählige Möglichkeiten selbst aktiv zu werden: Man könne sich in der Familie verabreden, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten und dafür eine Art Vertrag abschließen oder versuchen an Schule, Hochschule oder am Arbeitsplatz Emissionen zu reduzieren, das Gleiche gilt beim eigenen Haus, bei der Ernährung und der Mobilität. „Es gibt an vielen Stellen Potenzial für eine nachhaltige Zukunft“, ist die Expertin überzeugt.

Mit Blick auf eine übergreifende Ebene fordert Kemfert eine „Energiesystemwende“. Nur eine Energiewende, also nur ein Umstieg von fossiler auf erneuerbare Energie, reiche nicht aus. Eine Systemwende heißt für die Wirtschaftswissenschaftlerin vor allem weg von einer zentralen Energieversorgung mit wenigen Großkraftwerken, hin zu einer dezentralen Versorgung zu kommen. Diese wäre kleinteilig und stellte lokal mit unterschiedlichen Technologien Energie bereit, dies zudem mit einem viel größeren Anteil an Erneuerbaren als heute. „Die Versorgung würde dann nicht mehr quasi von oben nach unten, vom großen Energieerzeugungsunternehmen zum einzelnen Kunden, sondern vernetzt unter vielen stattfinden“, so Kemfert. Mit einer Art „fluktuierender Erzeugung“ wäre das System, in dem „alles mit allem interagiert“, sehr flexibel und genauso sicher, wie das heutige. Eine zentrale Funktion übernähme dabei die Digitalisierung. Sie mache möglich, intelligente Netze und virtuelle Kraftwerke zu schaffen.

Gesagt, getan? Nein, denn, so Kemfert, woran es fehle seien die entsprechenden Rahmenbedingungen all dies umsetzen zu können: Fördermittel, Ausbaupläne und rechtlichen Regelungen zum Beispiel. Und woran es in erster Linie fehlt: dem politischen Willen. „Das ist das Haupthindernis. Technologisch sind wir so weit und es gibt auch die passenden Geschäftsmodelle.“ Es werde viel über den Ausstieg diskutiert, aber viel zu wenig darüber, wohin wir wollten, wie ein wirklich neues System aussehen könne.

Ein weiteres großes Hemmnis für die Umsetzung der Systemwende sieht Kemfert darin, dass die Fachkräfte dafür fehlen. Zugleich liegt für sie darin aber auch eine große Chance. „Es wären jährlich von öffentlicher Seite Investitionen in der Größenordnung von 50 Milliarden Euro nötig.“ Bei den derzeitigen Konditionen auf dem Kapitalmarkt wäre eine Kreditfinanzierung der Investitionen ohne Probleme möglich. Zudem könnten mit dem Abbau von umweltschädlichen Subventionen bis zu 30 Milliarden jährlich eingespart werden. „So könnten mit einer Energiesystemwende Millionen von neuen, hochqualifizierten, zukunftssicheren Jobs entstehen“, ist die Ökonomin überzeugt, „der Nutzen für die Wirtschaft, die Menschen und die Umwelt überwiegt auf jeden Fall“.

Wirtschaftskrise, Klimakrise, Energiekrise, Biodiversitätskrise – der Liste von Kemfert fügte Tamara Fischer noch die Gesundheitskrise hinzu. In ihrem kurzen Referat verwies die Nürtinger Klimaschutzmanagerin ebenfalls und aus Sicht der lokalen Akteurin, auf die Vielschichtigkeit des Themas. Auch sie sieht den Fachkräftemangel, im Handwerk wie in der Beratung, als eins der größten Probleme bei der Umsetzung der Energiewende. Beiden Expertinnen ist aber auch wichtig, das dominante „Narrativ“ zu überwinden, den Fokus in der Diskussion auf die mit der Energiewende verbundenen hohen Kosten und möglichen Einschränkungen. „Deshalb sind solche Veranstaltungen wie die heute Abend im Rahmen des Studium generale wichtig“, sagte Kemfert. Hier finde eine offene, konstruktive Diskussion statt. Die zahlreichen Fragen und Anregungen, die aus dem Chat zur virtuellen Veranstaltung kamen, waren ein Beleg dafür. Moderator Prof. Dr. Christian Arndt konnte nur einen kleinen Teil an die Referentinnen weitergeben. Die Mission der Hochschule laute „Bildung für Verantwortung“, so der Leiter des Zentrums für Nachhaltige Entwicklung an der Hochschule. Ein Ort für solche Diskussionen und das Entwerfen von konkreten Zukunftsvisionen zu sein, gehöre ebenso zum Selbstverständnis der HfWU, wie die Ausbildung von hochqualifizierten jungen Menschen, die als Fachkräfte zum Gelingen der Energiewende beitragen können.