Die Neuerfindung des Kunden – Autokongress in Nürtingen

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Gute Zahlen, verhaltene Stimmung: Prof. Dr. Willi Diez beim IFA-Kongress in Nürtingen. (Foto: HfWU/üke)

- Automobilkongress in Nürtingen nimmt „Kunden im digitalen Zeitalter“ in den Blick; Topmanager und Wirtschaftsministerin referieren -

NÜRTINGEN. (hfwu) Lange währte die Dreierbande von Autoherstellern, Handel und Kunde. Mit der Digitalisierung treten nun als weiterer Mitspieler branchenfremde Firmen auf den Plan. Wie der Wirtschaftszweig auf die fundamentale Herausforderung reagiert, darum ging es beim „Tag der Automobilwirtschaft“ in Nürtingen. Die baden-württembergische Wirtschaftsministerin versprach förderliche politische Leitplanken für die Fahrt der Branche in die Zukunft.

Bei Daimler nennt man es Ökosystem, Volkswagen spricht von „We“, bei Skoda ist es die Customer Journey. Gemeint sind neue Konzepte, die den Vertrieb, das Marketing und vor allem das Angebot von digitalen Diensten rund um den Autokauf bündeln. Eins haben die Konzepte gemein: Sie sind Antworten auf den Umstand, dass den Autobauern und -verkäufern Firmen wie Apple, Facebook und Tesla, und mit pfiffigen Ideen auch kleine Startups ins angestammte Gehege kommen. „Es reicht nicht mehr, einfach nur sehr gute Autos zu bauen“, resümierte folglich auch Sabine Scheunert, Digital- und Marketingexpertin bei Mercedes Benz Cars, im Rahmen der vom Institut für Automobilwirtschaft (IFA) an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) organisierten Tagung.

Vor dem Hintergrund des größten Umbruchs, den die Branche bislang erfahren hat, gehe es darum, den Kunden in ein digitales Ökosystem einzubinden. Dies umfasse zum einen die für einen Kaufentscheid immer wichtiger werdenden digitalen Diensten rund um das Auto. Dazu gehören aber auch weitere Produkte, Informations-, Mobilitätsangebote und vor allem technologische Innovationen. Die neueste aus dem Hause Daimler präsentierte Scheunert erstmals öffentlich den rund 500 Besuchern des Autokongresses: Eine via Smartphone sprachgesteuerte, intelligente Betriebsanleitung. Die App beantwortet alle Fragen zu den Funktionalitäten des Autos oder errät gleich selbst, wenn die Handykamera auf eine bestimmte Apparatur im Auto gehalten wird, welcher Information es bedarf.

Wer solche auf künstliche Intelligenz und erweiterter Realitätswahrnehmung gestützte Anwendungen bereits als den vorläufigen Höhepunkt der digitalen Revolution sieht, dem hielt Thomas Zahn seine Zukunftsvision entgegen. „Was wir in der Branche sehen ist unzweifelhaft nichts weniger als eine Revolution – und die geht exponentiell weiter. Wer bei dieser Revolution nicht mitmacht, bedroht seine Existenz“, erklärte der bei Volkswagen für den Deutschlandvertrieb verantwortliche Manager. Bei VW ist „We“ das Instrument, um die „Kundenbeziehung völlig neu aufzustellen“, so Zahn. Ähnlich wie mit dem Ökosystem bei Daimler geht es auch hier darum, mit einer digitalen Plattform die komplette Lebenswelt des Autokäufers- und -nutzers abzubilden.

Der Sicht ihrer Vorredner schloss sich Susanne Franz an. Sie ist Marketingdirektorin bei SEAT, nach ihrer Aussage, der Autohersteller mit der jüngsten Käuferschaft. Gerade diese Generation Y mache mit ihrem eigenen Lebensgefühl und Wertekanon ein maßgeschneidertes Marketing und Kundenmanagement erforderlich. Und die Jungen zeigen für Franz: „Es gibt nicht die eine Mobilität der Zukunft“. Die Menschen lebten in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. „Ein Auto muss zu meinem Lebenskonzept passen und meine Persönlichkeit widerspiegeln“, ist die Marketing-Frau überzeugt.

Mit Blick auf den deutschen Autokäufer scheint dies derzeit der Fall zu sein. Jedenfalls legen diesen Schluss die aktuellen Zahlen zu den Neuzulassungen nahe. 3,4 Millionen sind es in diesem Jahr, noch mehr erwartet der IFA-Direktor Prof. Dr. Willi Diez für 2018. „Der Trend weg vom Diesel hin zum Benziner treibt den Neuwagenmarkt an“, so die Erklärung des Automobilwirtschaftlers. Bei den Elektroautos werde im kommenden Jahr erstmals die Marke von 100.000 übersprungen, so seine Prognose.

Noch spielen die E-Mobile zahlenmäßig keine große Rolle. Nach wie vor kommen in der herkömmlichen Autoproduktion vier von fünf Teilen von kleinen und mittelständischen Zulieferern. Darauf wies die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut hin. Um das Innovations- und Wertschöpfungspotenzial des Mobilitätswandels auch für diese mittelständischen Firmen nutzbar zu machen, „ist es entscheidend, traditionelle Geschäftsmodelle zu reformieren und technologische Kompetenzen zu erweitern“, sagte die Ministerin. Sie könne sich zudem vorstellen, die Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten der Mittelständler und auch deren Kooperationen mit Hochschulen gezielt steuerlich zu fördern. Generell gehe es in der Automobilbranche nicht nur um technologische Herausforderungen. Genauso komme es darauf an, ein neues Denken, einen neuen Geist nutzbar zu machen, ähnlich dem wie er im amerikanischen Silicon Valley vorherrsche.

Unter den anwesenden Branchevertretern waren sicher einige, die sich diesem Wunsch gerne anschlossen. Denn trotz der guten Verkaufszahlen, „Jubelstimmung kommt derzeit nicht auf“, so die Wahrnehmung von Professor Diez. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden fundamentalen Umwälzungen scheint dies nachvollziehbar. Der Titel der Tagung lautete „Der Kunde im digitalen Zeitalter“. Die damit verbundene Herausforderung für die Branche ist offenbar keine geringere als diesen Kunden neu zu erfinden.

Udo Renner, 30.11.2017