Abschied von der sozialen Marktwirtschaft?

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NÜRTINGEN. (üke) Die Bundesrepublik durchläuft einen grundlegenden Systemwandel. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft wird weiterentwickelt durch ein Szenario, in dem vor allem der Zustand der Finanzmärkte und die Flüsse des Anlagekapitals über die Zukunft entscheiden.

Anlässlich der Eröffnung des Studienganges "Internationales Finanzmanagement" sprach der ehemalige Chefredakteur der Börsen-Zeitung, Hans Konradin Herdt, an der Fachhochschule Nürtingen. Deutschland geht den Weg zur Finanzmarktwirtschaft, verlässt den gewohnten und traditionellen Zustand der sozialen Marktwirtschaft, dem prägenden Systemcharakteristikum der Nachkriegszeit. Ein Wandel, der sich schnell vollzieht, und der die Bundesrepublik in den Kreis der Länder aufnimmt, in denen längst das Wohl der Aktiengesellschaften über das Wehe des Staates entscheiden. Was vor allem die USA, Großbritannien und auch die Niederlande bereits hinter sich haben, ist in unserem Land mit voller Wucht präsent
Hans Konradin Herdt analysiert diesen Wandel am Beispiel des Blickes von außen. Ein englischer Autor stellte unlängst fest, dass Deutschland beginne auf der Weltbühne mit neuem Selbstbewusstsein aufzutreten. Beispiele wie DaimlerChrysler und die Deutsche Bank würden zeigen, dass das Kapital in Deutschland der König geworden sei. Das angelsächsische Modell habe auch im Land der Deutschland AG gesiegt. Ob dies zum Wohl der Bundesrepublik ist, diese Frage beantwortet Herdt nicht eindeutig. Gleichwohl beschreibt er ohne ideologische Verbrämung den Wandel, den unser Land derzeit durchschreitet. Durchaus nicht zum Nachteil der Gesellschaft. Herdt sieht die Zwänge zu dieser Entwicklung, er definiert aber auch die Chancen die darin stecken. Deutschland habe keine lange Börsentradition. Das Aktienwesen sei spätestens nach dem Crash des schwarzen Freitags im Jahr 1929 in Deutschland diskreditiert gewesen. Das 3. Reich habe dem Investmentbanking entgültig den Garaus gemacht, indem die Expertise, die eben auch jüdische Bankiers besaßen, vertreiben oder vernichtet wurde. Die Nachkriegszeit war bestimmt von einer "Verklumpung der deutschen Wirtschaft", wie Herdt es beschreibt. Überkreuzbeteiligungen der Banken an der Industrie schufen das, was allerorts als "Deutschland AG" apostrophiert wurde. Diese Zeiten sind vorbei. Zug um Zug haben sich die Banken in den letzten Jahren von ihren Industriebeteiligungen getrennt. Und der große Kehraus, der Ausverkauf der Deutschland AG, steht nach Herdts Worten erst noch bevor. Eine grundlegende Mentalitätsveränderung sei festzustellen. Der weltweite Wettbewerb dreht sich nicht um Dienstleistungen und Produkte sondern um Kapital. Schon aus diesem Grund müssen sich deutsche Unternehmen den internationalen Regeln, eigentlich den angelsächsischen Regeln, der Finanzmärkte anpassen.
Der "Shareholder value" ist für Herdt kein Unwort, das nur die reine Profitgier der Aktionäre umschreibt. Es ist ein Synonym für den Erfolg der Aktiengesellschaften. Die Anleger rücken vom Rand ins Zentrum des Geschehens. Die Tatsache, dass allein das Vermögen der amerikanischen Pensionsfonds auf sieben Billionen Dollars geschätzt wird, zeigt, dass der Zustand der Finanzmärkte auch über die Stabilität der Altersvorsorge entscheidet. Mit dem Beschluss, neben die staatliche auch Säule der privaten Altervorsorge zu stellen, vollziehe die Bundesregierung nur einen Schritt nach, der in vielen anderen Ländern längst geschehen ist. Der internationale Wettbewerb um Kapital ist in vollem Gange. Die Auswahl für die Anleger ist international. Allein in Deutschland sind im letzten Jahr 200 Unternehmen an die Börse gegangen. Auch in diesem Jahr, so Herdt stünden die Unternehmen Schlange. Daran ändere auch nichts, dass der neue Markt stellenweise sehr alt aussah und auch die "New Economy" gegen alte Fehler nicht gefeit sei.
Dies alles zeigt einen rapiden Systemwechsel. "Wer hätte es je für möglich gehalten" so Herdt", dass es in Deutschland mit 13 Millionen einmal rein rechnerisch mehr Aktionäre als Gewerkschaftsmitglieder geben würde.?" Es ergibt sich die schlichte Einsicht, dass es nicht mehr anders geht, dass nur ertragsstarke Unternehmen in der Lage sind, die Altersversorgung breiter Arbeiterschichten abzusichern. Kein Wunder dreht sich alles um die Kunst der Vermögensverwaltung. Es gebe, so Herdt, keine Alternative zur Kapitalmarktorientierung. Sie liegt letztlich auch im Interesse der Arbeitnehmer.
Das neue Szenario der Finanzmarktwirtschaft folgt nicht der grenzenlosen Globalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft. Nach der Deutschland AG komme keineswegs die Welt AG. Auch mit Mitsubushi bleibe DaimlerChrysler ein multinationaler Konzern mit Sitz in Stuttgart. Dem Modebegriff des "globalen Dorfes" erteilt Herdt eine eindeutige Absage. Das globale Dorf sei ein Mythos. Ein Dorf setze eine kulturelle Einheit voraus, und davon könne man beim gegenwärtigen Zustand der Welt wirklich nicht reden. Die Unternehmen müssten sich in dieser Situation immer wieder neu bewähren und definieren. Dies sei Fianzmarktwirtschaft.