Stresstest im Schlaraffenland

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Der Lebensmittelforscher Dr. Heribert Watzke sprach im Rahmen des Studium generale an der HfWU.

- Vortrag an Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) nahm Corona-Pandemie mit Bezug zu Ernährungssystem in den Blick -

NÜRTINGEN. (hfwu) Die Pandemie entstand, weil wir uns ernähren wie wir uns ernähren. Und wie wir uns ernähren beeinflusst wie wir erkranken. Bei einem Vortrag an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) ging es um die „Pandemie im Schlaraffenland“, die Wechselwirkung zwischen unserem Ernährungssystem und Corona.

Die Bücherregale reichen bis unter die Decke, Papierstapel auf dem Tisch, Bücher links und rechts, mitten drin Heribert Watzke. Hellwach, den Zusehern freundlich zugewandt spricht der ältere Herr in die Kamera, ganz offenbar guter Dinge. Trotz allem. „Wir befinden uns in der Kostümprobe für das große Drama des Anthropozän“, sagt der studierte Chemiker, Physiker, Philosoph und Historiker. Watzke ist im Rahmen des Studium generale an der HfWU aus seinem Arbeitszimmer im Schweizerischen Lausanne zugeschaltet. Das Thema seines Vortrags, für das sich rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der virtuellen Veranstaltung interessieren, lautet „Pandemie im Schlaraffenland: Die COVID-19-Pandemie im Blickwinkel unserer Ernährungssysteme“.

Im Zeitalter des Anthropozän ist der Mensch der bestimmende Faktor im globalen Ökosystem. In der aktuellen Krisen-Situation sind wie auf einer Bühne die zentralen Akteure und prototypische Diskurse zu sehen, ist Watzke überzeugt. „Hier können wir üben für die Zeit, wenn die wirkliche Katastrophe eintritt“. Denn mit dem Klimawandel und der Vernichtung der Artenvielfalt stehe uns das eigentliche Drama erst noch bevor.

In den vergangenen gut hundert Jahren sind rund einhundert Millionen Menschen an regionalen Epidemien und globalen Pandemien gestorben. Allein die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg forderte 50 Millionen Todesopfer. Erfahrung genug, ließe sich vermuten, um sich künftig gegen grassierende Infektionskrankheiten zu wappnen. Weit gefehlt. Kein Land der Welt sei darauf vorbereitet, einer Epidemie oder Pandemie Herr zu werden, zitiert Watzke den Befund des Global Health Security-Index aus dem vergangenen Jahr, den die Johns-Hopkins-Universität zusammen mit anderen Institutionen erstellt hat.

Zumindest vorherzusagen, wie sich ansteckende Krankheiten verbreiten, wird seit der Spanischen Grippe mit Hilfe von Modellen versucht. Ein relativ einfaches sei das zur Ermittlung der Reproduktionsrate, erklärt Watzke, der in der Forschung an verschiedenen Universitäten und beim Lebensmittelkonzern Nestlé tätig war und heute als selbständiger Berater arbeitet. „Die Modelle zeigen, wie gering unser Spielraum ist. Und das erklärt, warum die jüngste Nachricht bezüglich eines Impfstoffs so euphorisch aufgenommen wird.“

Mathematische Berechnungen aber allein können die Dimension und auch die tiefere Erkenntnis, die in der aktuellen Krise steckt, nicht erfassen. Für den Experten für Ernährungssysteme und Nahrungsmittelproduktion besteht zum einen ein enger Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Pandemien und der Art und Weise wie wir Lebensmittel produzieren. Zum anderen beeinflusst die Art und Weise wie wir uns ernähren, wie wir erkranken.

„Zoonosen“ ist das Stichwort für das Aufkommen und die ursprüngliche Entstehung von Pandemien. Bei solchen Infektionskrankheiten werden Erreger wechselseitig, insbesondere von Tier zu Mensch übertragen. Der Mensch begünstigt dies indem er natürliches in Nutzland umwandelt, mit dem Handel von Tieren und durch die industrielle Nahrungsmittelproduktion. Kurz: Durch die Verringerung von Artenvielfalt.

Aber wie wir uns ernähren beeinflusst nicht nur, dass Pandemien entstehen. Es hat auch Einfluss auf den Verlauf einer Krankheit. Watzke verweist auf eine Studie, die bei stark Übergewichtigen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf einer Corona-Erkrankung nachweist. Unser Ernährungsstil wirkt sich für den Naturwissenschaftler insbesondere auf die Immunität der Menschen und Entzündungen im Körper aus. Weit verbreitet sieht er „niederschwellige, systemische und chronische Entzündungen, die für den Einzelnen kein medizinische Großereignis sind.“ Eine Hauptursache dafür liegt für Watzke im Mangel an Mikronährstoffen wie Mineralstoffen und Vitaminen.

Sein Vorschlag, wie ein gegenseitiges Aufschaukeln verhindert, die „Syndemie“ entkoppelt werden kann: eine biologisch orientierte Nahrungsmittelproduktion, ein „urbanes Redesign“ und „mehr Verwilderung“, respektive weniger Landschaftsverbrauch. Den ersten Schritt könne jeder selber machen. „Die Lebensmittelindustrie verkauft nicht Produkte, sondern Zeitökonomie“, ist der Berater überzeugt. Die Alternative sei, weniger stark verarbeitete Lebensmittel essen, auf die Ausgewogenheit der Nährstoffe achten, sich Zeit zum Kochen nehmen. Spinat und Kohl, weiß der Ernährungsexperte, sind hervorragende Mikronährstofflieferanten.

Udo Renner, 13.11.2020