Ischinger für mehr Zusammenhalt in Europa

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Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger an der HfWU. (Foto: HfWUschlegel)

- Studium generale, Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU), Vortrag von Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger, 14.6. Nürtingen -

NÜRTINGEN. (hfwu) Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat seine alte Heimatstadt Nürtingen besucht. Angereichert mit Geschichten von Begegnungen mit Kissinger und Steinmeier machte der Ex-Botschafter seine Ausführungen zur Geopolitik Deutschlands und der EU zu einem abwechslungsreichen und tiefschürfenden Vortrag. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Studium generale an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Zusammenarbeit mit dem Rotary Club Nürtingen-Kirchheim/Teck statt.

„Normalerweise fängt man mit den guten Nachrichten an“, so Wolfgang Ischinger in der Einleitung zu seinem Vortrag zu geo-strategischen Herausforderungen für Deutschland und die EU. „Aber davon gibt es aktuell so wenige. Ich beginne also gleich mit schlechten: Die weltpolitische Lage ist so gefährlich wie seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr. Oder, wie Bundespräsident Steinmeier es sagt und ich oft mit ihm besprochen habe: Die Welt ist aus den Fugen.“ Besonders leichte Kost ist es nicht, die der hochrangige Diplomat an der HfWU zu erzählen hat. Ähnliches deutet auch der Titel seines Buchs an, das im September erscheinen wird: „Welt in Gefahr“

Dennoch schafft es der ehemalige Botschafter, sachlich zu bleiben und zuletzt Lösungsansätze in den Fokus zu rücken. Mal wieder in seiner alten Heimat Nürtingen zu sein, bereitet dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz zudem sichtlich Freude. In seinem ausgezeichnet vorgetragenen und klar strukturierten Vortrag benötigt er keine mediale Unterstützung, um die fast 300 Zuhörenden im vollen Hörsaal über zwei Stunden bei der Stange zu halten. Ebenso wenig bedient er sich einfachen oder populären Thesen. Seine Anekdoten aus Jahrzehnten politischer Erfahrung, in die er Begegnungen mit hochrangigen Politikerinnen und Politikern einfließen lässt, halten die Analyse lebendig. „Wir sind an einer Hochschule“, betont Ischinger gleich zu Anfang. Und auch wenn er heute Tagesaktuelles wie Trump und Nordkorea erwähnen werde, dürfe und solle man an dieser Stelle tiefer gehen.

Für die weltpolitische Lage macht der ehemalige deutsche Botschafter in den USA vier Verluste verantwortlich: Zunächst sei die Vorhersagbarkeit nicht mehr gegeben. Noch im Januar 2014 habe ihm keiner seiner Beraterinnen und Berater sagen können, dass die Maidan-Proteste Auswirkungen über die Ukraine hinaus auf ganz Europa haben werden. Im Februar war dies in allen Zeitungen zu lesen. „Innerhalb weniger Wochen ändert sich die Sicherheitslage“, so Ischinger. Zweitens sei die Wahrheit verloren gegangen, maßgeblich sichtbar durch Putin und Trump, der von alternativen Fakten anstatt von Lügen spreche. Des Weiteren sei die Entscheidungskraft verloren, der Sicherheitsrat zum Beispiel ständig blockiert. Und zuletzt und für den ehemaligen Botschafter am entscheidend: Der Staat habe kein Gewaltmonopol mehr. „Früher habe ich gelernt, wenn geschossen wird, macht das der Staat“, führt der Diplomat aus. „Heute kann ein Einzelner oder eine kleine Gruppe großen Schaden anrichten, und zwar digital.“ Hacker, unter denen es gute aber eben auch schlechte Menschen gebe, hätten heute Möglichkeiten wie nie zuvor etwa das Stromnetz oder die Versorgung von Krankenhäusern so sabotieren. Die Cyber-Sicherheit müsse deshalb weit oben auf der Tagesordnung stehen.

„Der Staat kann seine alte Rolle nicht mehr ausüben“, analysiert Ischinger. Deshalb sei der Weg zurück zum Nationalstaat, wie es manche gerade fordern, genau der Holzweg. Dadurch würde die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft nur weiter eingeschränkt. Die Lösung sieht der Botschafter viel eher in einer stärkeren Europäischen Union – und zwar einer, die außenpolitisch handlungsfähig ist. Dies sei wiederum nur durch die Auflösung der Notwendigkeit der Einstimmigkeit gegeben. Aus Sicht des Botschafters sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich vorangehen und für Mehrheitsentscheidungen kämpfen. Müsste nur eine Mehrheit und nicht alle Mitgliedstaaten für ein Vorgehen stimmen, könnte man schneller und vor allem mit einer Stimme sprechen. „Ein solcher Vorschlag würde Deutschland gut zu Gesicht stehen“, findet Ischinger. Unter den Mitgliedstaaten seien wir aktuell nicht mehr so beliebt. Würden wir ankündigen, künftig außenpolitisch Mehrheitsentscheidungen zu vertreten, könnte das unser Image verbessern. Zudem hätten wir nichts zu befürchten. Ischinger erklärt: „Bei den EU-Entscheidungen der letzten Jahre lagen wir zu 99 Prozent im Mainstream.“ Allein bei Fragen die Israel betreffen, sollte sich Deutschland aufgrund der geschichtlichen Verantwortung vorbehalten, Beschlüsse eventuell nicht mitzutragen.

In der anschließenden Fragerunde bestätigt sich das hohe Gesprächsniveau. Während einige Gäste Rückfragen stellten, machten andere Gegenpositionen klar. Starken Gegenwind bekam Ischinger für seine Thesen allerdings nicht. Er antwortete ausführlich und betonte erneut die Notwendigkeit für Zusammenarbeit: „Vor Kurzem war ich mit Sigmar Gabriel in Saudi Arabien. Der dortige Außenminister sagte mir: 'Morgen kommt der Vertreter von Österreich, übermorgen der von Italien.' Da fiel mir wieder auf, wie unkoordiniert wir Europäer im Ausland rüberkommen müssen.“ Für die Zukunft sei es wichtig, gemeinsam oder zumindest mit der gleichen Meinung aufzutreten. Auch wenn der Weg dorthin noch lang und steinig sei.

Das gelungen zusammengestellte Programm des Studium generale im Sommersemesters 2018 ist mit Ischingers Vortrag fast abgeschlossen. Der Auftritt der studentischen Tanztheatergruppe in der Aula in der Sigmaringerstraße 15/2 rundet am Dienstag, 26. Juni, um 20 Uhr die Reihe ab. Öffentliche Vorlesungen an der HfWU im Wintersemester ab Oktober stehen bereits online unter www.hfwu.de/studium-generale .

Laura Schlegel, 15.06.2018