„Ich lebe noch und das ist kein Witz"

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Mit den Worten „Ich lebe noch und das ist kein Witz“ hat Mike Weiblen, bis Februar Student im Studiengang Energie- und Recyclingmanagement der Hochschschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU), seine Mail, die er diese Woche an Bekannte verschicke, überschrieben. Im weiteren Verlauf schildert er seine Erlebnisse in dem Ort Brienz, wo das Hochwasser acht Gebäude komplett weggespült und zwei Menschen das Leben gekostet hat.

Bereits am Sonntagabend, als sich der 31-Jährige Reutlinger von seinen Eltern aus auf den Weg in seine neue Schweizer Heimat gemacht hatte, dachte er unterwegs an Überschwemmungen. „Es hat unentwegt geschüttet und am Straßenbankett stand teilweise richtig das Wasser.“ Mike Weiblen arbeitet seit Abschluss seines Studiums im Februar nahe Brienz bei der Kraftwerk Oberhasli AG (KWO) als Umweltbeauftragter. Die Gegend um den Brienzer See kennt er von Kindesbeinen an, er hat mit seinen Eltern dort schon viele Urlaube verbracht. Dadurch reifte in ihm während seines Studiums des Energie- und Recyclingmanagements in Geislingen die Idee, seine berufliche Zukunft in dem 3000-Einwohner Ort in der Nordwestschweiz, rund 20 Kilometer von Interlaken entfernt, zu suchen.
Was er jetzt erlebt hat, ist für den Betriebswirt immer noch unfassbar: „Acht Gebäude sind einfach weg, andere schwer beschädigt oder versetzt – das kann man nicht glauben.“ Als in der Nacht von Montag auf Dienstag das Wasser und die Gerölllawinen abgingen, hat Mike Weiblen allerdings wenig mitbekommen. Der Westteil von Brienz, in dem Weiblen heute wohnt, blieb vom Geröll weitgehend verschont, lediglich das Grundwasser drückte 30 Zentimeter hoch in den Keller. Erst am Dienstagmorgen hat er das Ausmaß der Katastrophe in den anderen Ortsteilen gesehen.

Bei seinem ersten Praktikum bei der KWO vor zwei Jahren hat er erlebt, was es heißt, wenn ein Gewitterregen Bäche anschwellen lässt, „das ist, wie wenn ein Zug durchs Zimmer fährt.“ Damals hat er genau dort gewohnt, wo jetzt acht Häuser fehlen und zwei Frauen ums Leben gekommen sind. Nur ein Teil seines damaligen Wohnsitzes steht noch. In Brienz hatte keiner mit einem solchen Ausmaß gerechnet. Selbst die älteren Bewohner vertrauten darauf, dass der Brienzer See die Wassermassen würde schlucken können. Doch der Rinnsal hat aus der acht Meter breiten Straße eine Schuttdeponie von 200 Metern Länge und 150 Metern Breite aufgetürmt.
Straßen seien zu unfreiwilligen Flüssen geworden. Brienz sei momentan ein unwirtlicher Ort. Die graubraune, hässliche Schlammlawine habe einige Ortsteile in eine Steinwüste verwandelt. Die Aufräumarbeiten kommen langsam voran. Morgens wirke die Szenerie gespenstisch, sagt Weiblen. Alles sei grau, wolkenverhangene Bergspitzen, graue, trocknende Schlammkrusten und kaum Menschen. Der Ort ist nur für Hilfskräfte und Einheimische zugänglich. Dafür werden eigens Konvois oder Busse organisiert. Ansonsten gibt es nur den Wasserweg über den Brienzer See. Post und Tageszeitungen gibt es ebenso wenig wie frische Lebensmittel. Kühlwaren darf der Supermarkt am Ort nicht mehr verkaufen, da für mehrere Stunden die Stromversorgung gekappt war. „Selbst das Wasser, dass man hier sonst aus jedem Bach trinken kann, muss jetzt abgekocht werden“, erzählt Mike Weiblen.
Dabei hatten die Bewohner noch Glück. Die KWO, die das Wasserkraftwerk, das mit Wasser aus Susten- und Grimselgebiet gespeist wird, bei Innertkirchen betreibt, hatte den Wasserstand in ihren Stauseen wegen Wartungsarbeiten bewusst tief gehalten. Dadurch konnten 17 Millionen Kubikmeter Wasser zusätzlich aufgenommen werden. Hätten die Stauseen den Normalstand gehabt, wäre der Brienzer See um rund einen halben Meter mehr angestiegen. Mit entsprechenden Folgen für Brienz, aber auch für die Menschen in Interlaken und im unteren Aaretal, wohin das Wasser abfließt.
Die Hoffnung in Brienz richtet sich zum Himmel, dass die angekündigten weiteren Regenfälle ausbleiben oder weniger heftig ausfallen. Mike Weiblen ist inzwischen fast wieder im Alltag angekommen und beschäftigt sich als Umweltbeauftragter der KWO mit Ölen, Gefahrstoffen und Lösungsmitteln. Ob er am Wochenende Brienz verlassen kann, um ein Konzert in Konstanz zu besuchen, für das er schon vor Wochen die Karte gekauft hat, ist ihm nicht mehr so wichtig. Er hat in diesen Tagen erfahren, wie klein die Alltagsprobleme oft sind.