Potenzial der Widerständigkeit

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Die Organisatoren des kunstpädagogischen Forschungskolloquiums Prof. Dr. Tobias Loemke, Dr. Kerstin Hallmann und Prof. Dr. Birgit Engel (v.l.). (Foto: HfWU)

Internationales kunstpädagogisches Forschungskolloquium zur „Politik der Erfahrung“ an der HfWU in Nürtingen

NÜRTINGEN (hfwu). „Die Politik der Erfahrung“, unter diesem Titel stand ein internationales kunstpädagogisches Forschungskolloquium an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen. Künstlerisches Schaffen ist mit einer sinnlichen und körperlichen Erfahrung verbunden. Diese kann unter anderem der zunehmenden digitalen Vereinnahmung des Lebens eine andere Qualität der Weltaneignung gegenüberstellen. So ein Befund der interdisziplinären Tagung.

„Eine Instrumentalisierung des Lernens, die sich einzig an einer Überprüfbarkeit von Kompetenzen und des „Outputs“ orientiert, greift zu kurz, wenn dabei die Komplexität von menschlichen Bildungsprozessen aus dem Blick gerät. Das kritisieren wir“, bringt Professorin Dr. Birgit Engel einen Aspekt des Forschungskolloquiums auf den Punkt. Eine künstlerische Grunderfahrung sei, dass ein Gelingen nicht garantiert ist. Viele Faktoren spielten hier eine Rolle. Sich eine Offenheit zu bewahren sei wichtig. „Auftretende Widerstände in künstlerischen Bildungsprozessen bei einzelnen Menschen müssen angesehen und fruchtbar gemacht werden“, sagt Tobias Loemke. Der Kunstpädagogik komme die Rolle zu, dies zu begleiten. Gerade deswegen sei der interdisziplinäre Austausch mit der Kunsttherapie notwendig.

Birgit Engel hatte zusammen mit HfWU-Professor Dr. Tobias Loemke und Dr. Kerstin Hallmann von der Uni Osnabrück das Kolloquium organisiert. Rund 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren an die HfWU nach Nürtingen gekommen. Das interdisziplinäre „Internationale Kunstpädagogische Forschungskolloquium zu Fragen der professionsbezogenen künstlerischen und ästhetischen Bildung“ hat eine lange Tradition. Das 16. Treffen fand nun erstmals an der HfWU statt. Thematisch stand bei der dreitägigen Tagung „Die Politik der Erfahrung“ im Fokus.

Widerstände jedoch nur als Teil einer individuellen Erfahrung zu verstehen, würde zu kurz greifen. „Die Widerständigkeiten, die in der Erfahrung, im Erleben und Lernen auftauchen, sind wichtig für einen kritischen Blick“, ist Engel überzeugt. Sie haben politische Bedeutung, wenn sie in ihren sozialen Zusammenhängen reflektiert werden können. Denn gerade dieser Blick gehe heute mehr und mehr verloren, so die seit kurzem emeritierte Professorin für Kunstdidaktik an der Kunstakademie Münster.

„Die Frage nach der politischen Relevanz von Wahrnehmung und Erfahrung hat eine darüber hinaus reichende Bedeutung“, ergänzt Tobias Loemke, Professor für Kunst und Kunstpädagogik im HfWU-Studiengang Kunsttherapie. Sie anzuerkennen mache erst künstlerische Gestaltungs- und damit Transformationsprozesse möglich. Die Frage stelle sich daher, so Kerstin Hallmann, Kunstpädagogin an der Universität Osnabrück, wie leib-sinnliche Erfahrungen in Bildungsprozessen fruchtbar gemacht werden können um die Person und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Alle drei sind sich einig: In einer Zeit, in der die Zukunft ungewiss ist, sei es nicht nur wichtig, die Ängste in den Blick zu nehmen. Es gehe vor allem auch darum, Offenheit zu beherzigen und zu ermöglichen. Damit dies im Schulunterricht gelingt, ist dies bereits in der Bildung von Lehrerinnen und Lehrern an den Hochschulen notwendig. Letztlich sei für die Entwicklung eines Gemeinschaftsgedankens und einer nachhaltigen Zukunftsvision, eine solche kulturelle und internationale Offenheit unabdingbar. Die drei Wissenschaftler:innen gehen vor diesem Hintergrund noch einen Schritt weiter. Für sie steht fest, „Die Veränderung der Schulen setzt auch eine veränderte Lehr- und Lernpraxis an den Hochschulen voraus.“