"Unter aller Sau" – Tagung nahm Nutztierschutz in den Blick

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Die Landesbeauftragte Dr. Julia Stubenbord erläuterte die Regelungen des Tierschutzgesetzes. (Foto: HfWU/renner).

- Fachtagung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen wirft kritischen Blick auf Tierschutz bei der Nutztierhaltung -

NÜRTINGEN (hfwu). Mit dem Tierschutz ist es in Deutschland zum Besten bestellt. Theoretisch. Tierschutzgesetz und Praxis klaffen bei der Schweinehaltung mitunter weit auseinander. Dies zeigte eine Tagung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen.

 

Das Team Nürtingen der Jungen Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), ein Zusammenschluss von Studierenden an der HfWU, hatte zu der Veranstaltung eingeladen. Zu der Tagung unter dem Titel „Eingriffe an Nutztieren – wie lässt sich das Tierschutzgesetz integrieren“ waren rund 50 Interessierte gekommen.

„Vieles in der Nutztierhaltung wird in der Praxis routinemäßig gemacht, obwohl es vom Tierschutzgesetz nicht gedeckt ist“, stellte Dr. Julia Stubenbord zum Auftakt klar. Die baden-württembergische Landesbeauftragte für Tierschutz verwies auf den in das Grundgesetz als Staatsziel aufgenommenen Tierschutz. Demnach hat der Tierschutz den gleichen Rang wie die Grundrechte der Menschen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, so die Formulierung im Paragraph 1 des Tierschutzgesetzes. „Das steht im krassen Gegensatz zur Praxis“, so Stubenbord. Ein Fünftel aller Schweine, fast 14 Millionen, verendeten jährlich vor der Schlachtung. Detailliert ging die Tierärztin auf die rechtlichen Grundlagen und das Schmerzempfinden der Tiere bei der Ferkelkastration ein. Jährlich, so die Tierschutzbeauftragte, werden in Deutschland rund 20 Millionen Jungtiere ohne Betäubung mit Skalpell und Zwange kastriert. Diese Praxis stehe dem im Tierschutzgesetz festgehaltenen Amputationsverbot und der Betäubungspflicht entgegen. Eine Übergangsregelung, die vor wenigen Tagen nach dem Bundestag auch den Bundesrat passiert hat, erlaubt für weitere zwei Jahre die betäubungslose Kastration. Ohne die Kastration entwickelt ein Teil der Tiere den „Ebergeruch“. Ihr Fleisch gilt als unverkäuflich. Die Fristverlängerung der betäubungslosen Ferkelkastration hält Stubenbord für verfassungswidrig. Verfassungsrechtliche Gründe für die Unvermeidbarkeit der betäubungslosen Kastration seien nicht ersichtlich. Höhere Kosten für die Landwirte sind nach Einschätzung der Expertin juristisch nicht relevant.

Das Beispiel der weiterhin zulässigen Kastration ohne Betäubung scheint die generelle Einschätzung von Rudolf Wiedmann mit Blick auf die Schweinehaltung zu bestätigen. „Es gibt keine Ansätze für grundlegende Veränderungen“, so der Befund des Agrarbiologen und Beraters. Die Schweinehaltung stecke in einer tiefen Krise. Einerseits seien die grundlegenden Bedürfnisse der Tiere viel zu selten sichergestellt. Andererseits sei die Haltung der Tiere trotz größter Arbeitseffektivität kaum wirtschaftlich. Dabei gäbe es Konzepte für Schweineställe, die Tierschutz und Ökonomie in Einklang bringen. Sie stellte Wiedmann an Beispielen aus der Praxis vor. Sein Fazit: „Das Tierwohl ist unter aller Sau, so ist das System nicht zukunftsfähig.“ Zu lange hätten Berufs- und Interessensverbände, der Lebensmitteleinzelhandel und auch die Wissenschaft dem Tierwohl zu wenig Bedeutung zugemessen. Auch die Politik trage an der aktuellen Misere eine Mitschuld. Es fehle ein verpflichtendes, staatliches Tierschutzlabel. Aber, so Wiedmann, „langsam bewegt sich etwas.“

Dies bestätigte Dr. Clemens Dirscherl für den Lebensmitteleinzelhandel. Er ist beim Kaufland zuständig für Tierwohl und Nachhaltigkeit. Er sieht die anhaltende Debatte um den Tierschutz als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. „Vor zehn Jahren hätten wir solche Diskussionen nicht geführt“, ist sich Dirscherl sicher. Sein Unternehmen, die Schwarz-Gruppe, der größte Lebensmitteleinzelhändler in Europa, wolle hier Trendsetter sein. Die aktuellen Missstände lediglich der Landwirtschaft anzulasten, hält er für wohlfeil. Auch die Wissenschaft habe das Thema Tierwohl lange verschlafen. Der Agrar- und Ernährungssoziologe stellte aber auch klar, dass Kaufland nun nicht zur Tierschutzorganisation mutiere. „Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen und orientieren uns an den Käuferpräferenzen.“ Ernährung, Gesundheit und damit verbundene Moralvorstellungen seien für viele Menschen wichtige Bestandteile des heutigen Lifestyles. Kaufland fährt vor diesem Hintergrund zweigleisig. Das Angebot von Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung sei deutlich ausgebaut worden. Neben dem Fleisch aus herkömmlicher Produktion werde Tierwohlware vornehmlich an 300 neu in den Supermärkten eingerichteten Bedientheken angeboten. Hier habe der Konzern einen zweistelligen Millionenbetrag investiert. Mit einem „Qualitätsfleischprogramm“ will der Konzern zudem auf bessere Haltungsbedingungen für Schweine hinwirken.

Das Tierwohl-Engagement der Supermärkte sieht Hanns-Benno Wichert vornehmlich dem Blick auf die Interessen der Verbraucher geschuldet. Jede der hier vertretenen Interessensgruppen – Tierhalter, Tierschützer, Wissenschaftler, Verbraucher, Einzelhandel und Politik – habe ihr eigenes Verständnis von Tierwohl, erklärte der Vizepräsident des Landesbauernverbandes Baden-Württemberg. „Die Veränderungsbereitschaft der Tierhalter ist mehr gegeben als vermutet“, betonte Wichert. Allerdings, „die Veränderung, auch der Tierschutz, muss fachlich begründet und mit Planungssicherheit im Stall umsetzbar und finanzierbar sein.“ Hier stießen die Landwirte an Grenzen, wie etwa der Finanzierbarkeit oder baurechtliche Vorgaben. Wichert warnte vor einer Wettbewerbsverzerrung und einem „Export der Tierhaltung“. Seine Forderung: Landwirte, Behörden, Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzverbände sowie die Wissenschaft müssen sich zu einer Nutztierstrategie bekennen.